Die verwundete Stadt

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
Hamburger
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Die verwundete Stadt

Beitragvon Hamburger » 10.06.2003, 13:24

"25th Hour"

Regie: Spike Lee

Hauptdarsteller:

Edward Norton als Monthy Brogan

Philip Seymor Hoffmann als Jakob

Bary Pepper als Slaughty

Rosario Dawson als Naturelle

Inhalt:

Der New Yorker Drogendealer Monthy hat nur noch einen Tag in Freiheit zu leben, bevor er eine siebenjährige Haftstrafe antreten muss. An diesem Tag trifft er noch einmal auf die Personen, die ihm am nächsten stehen: seine zwei besten Freunde - den ausgebufften Broker Slaughty und den schüchternen Lehrer Jakob - seinen Vater und seine Feundin Naturelle. Monthy will herausfinden, wer ihn bei der Polizei verpfiffen hat. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit den verpatzten Chancen seines bisherigen Lebens.

Der vielleicht grösste Vorzug des neuesten Films von Spike Lee liegt in seiner grossen Intensität. Warum kam es so, wie es kam?, Wer trägt die Verantwortung dafür?, Wie hätte ich mein Leben anders gestalten können?, [i]Wie werde ich die Zukunft ertragen können?[/i] - in einem Zeitraum von nur einem Tag ist Monthy gezwungen sich intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Und diese Intensität überträgt sich auf den Zuschauer. Weitgehend kitsch-, und klischeefrei findet diese Auseinandersetzung statt und Edward Norton brilliert als gebrochener, aber nicht selbstmitleidiger Krimineller. Zu jeder Sekunde des Films kauft man ihm ab, dass Monthy erst langsam die Dimension dessen ergründet, was er tat, was er vertan hat und was auf ihn zukommen wird.
Die Nebenrollen sind ebenfalls sehr gut besetzt. Seymor Hoffmann überzeugt als furchtsamer, scheuer Lehrer Jakob, der sich zu einer 16jährigen Schülerin hingezogen fühlt und damit schwer zu kämpfen hat. Rosario Dawson versteht es, ihrer Figur eine gewisse Unduchsichtigkeit zu geben: Hat sie Monthy verraten oder nicht? Bary Pepper als Slaughty spielt den zynischen, abgezockten, kühlen Brooker ebenfalls sehr überzeugend.

Und stets gegenwärtig ist der 11.September. In einer Kritk habe ich gelesen: "Spike Lee verstand es, seine Finger genau in die Wunden New Yorks zu legen."
In der Tat: Dies wird an den Einstellungen (zum Beispiel die Bilder in der Kneipe des Vaters von Feuerwehrleuten am Ground Zero
oder der Blick von Slaughty`s Appartement hinunter zum Ground Zero) und am Seelenleben aller Figuren deutlich. Dabei setzt sich der Film durchaus kritisch mit
dem Ereignis und den Folgen des Terroranschlags für die New Yorker auseinander.
Kleiner Tipp: Diesbezüglich kann der Film in einem größeren Zusamenhang (als Gleichnis) aufgefasst werden. Vielleicht habe ich ja jemanden überzeugt, sich diesen sehenswerten Film anzuschauen, der/die dann sogar Lust hat, darüber zu reden.

In diesem Sinne bis denn...

Hamburger
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gelbsucht
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Re: Die verwundete Stadt

Beitragvon gelbsucht » 19.06.2003, 20:55

Hallo Hamburger,

es wird dich überraschen: auch ich habe den Film gesehen. Ich finde, Spike Lee hat mit diesem Film wirklich ein sehr feinfühliges Gleichnis vorgelegt und das muss er auch. Bei so einem Thema reagieren die Amerikaner ja sehr empfindlich, wenn man es wagt, von der patriotischen Welle zu springen und sich etwas nachdenklicher und kritischer mit den Geschehnissen und den Folgen des 11. Septembers 2001 auseinanderzusetzen. Mich hat vor allem die Szene vor der Kulisse des "Ground Zero" bewegt. Hier stehen die beiden Freunde von Monthy – Slaughty und Jakob – und unterhalten sich über den Abwesenden und schauen aus dem Appartmentfenster eines benachbarten Wolkenkratzers hinab in den Abgrund. Es ist schon dunkel und kräftige Halogenscheinwerfer beleuchten eine wirklich-unwirkliche Landschaft, die halb Ruine, halb Baustelle ist, wo Bulldozer etwas planieren, wo still eine amerikanische Flagge mahnt, wo noch zwei, drei Ebenen von zerstörten Parkdecks zu sehen sind. Dazu eine Musik, die ich als sehr gespenstisch empfand. Ich würde das als die Schlüsselszene des Films bezeichnen.

Auch das Leben von Monthy ist erschüttert und durch ein einschneidendes Erlebnis verändert worden. Die DEA, die Fahndungsbehörde der USA für Drogendelikte, hat einen Tipp bekommen. Eines Tages spazieren sie in seine Wohnung und sie wissen genau, wo sie die Drogen und das schmutzige Geld suchen müssen. Man hat ihn verraten.

Und jetzt stehen die beiden Freunde am Fenster und unterhalten sich über Monthy, über die Trümmer seines Lebens, über seine Fehler und über die Folgen, die das für ihn (und für sie selbst) hat. Damit repräsentieren sie aber auch die verschiedenen Reaktionen auf die Ereignisse des 11. Septembers. Jakob, der schüchterne Lehrer, er ist extrem empfindlich und furchtsam und wirkt fast den ganzen Film über wie gelähmt. Er repräsentiert die Angst, aber auch die naive Hoffnung, dass alles wieder so werden kann, wie es war. Slaughty, der kalte und abgebrühte Broker, ist da ganz anders. Ich denke, er repräsentiert in jedem Fall die aggressivere, opportunistische Reaktion: er ist trotzig und lässt sich auch durch dramatische Ereignisse nicht beirren und von seinem Weg abbringen. Slaughty ist eher eher der Macho, der Cowboy, der Draufgänger. Er versichert dem ungläubigen Jakob, dass er selbst dann, wenn Bin Laden den nächsten Jumbo-Jet ins Nachbarhaus krachen lässt, sein Appartment nicht aufgeben wird. Entweder hat er keine Angst oder er zeigt sie nicht. Er ist roh, aber überzeugt von sich selbst. Er sagt Jakob die Wahrheit knallhart ins Gesicht: Monthy hat drei Alternativen. Selbstmord, Gefängnis oder Flucht - die letzteren beiden Möglichkeiten werden dann im Folgenden noch eingehend thematisiert. Und Slaughty denkt, auch wenn Monthy sein Freund ist: irgendwie hat er es doch verdient. Und in noch zwei Punkten unterscheiden sich die beiden: Jakob ist reich, aber er schämt sich dafür und verleugnet seinen Reichtum. Slaughty dagegen setzt alles daran, weiterzumachen und seinen Erfolg und sein Vermögen auszubauen.

Fällt dir noch was zu den beiden ein, Hamburger, das ich vergessen hab?

;-) gelbe grüße :-)
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Re: Die verwundete Stadt

Beitragvon Hamburger » 27.06.2003, 13:24

Hallo gelbsucht!

Da hat dann also doch noch einer den Film gesehen. Das freut mich.

Mir ist zu dem Lehrer Jakob noch was eingefallen, und zwar eine Ergänzung. Du schreibst...

Er repräsentiert die Angst, aber auch die naive Hoffnung, dass alles wieder so werden kann, wie es war


Ich möchte hinzufügen: In gewisser Hinsicht repräsentiert er auch die naive Hoffnung, dass die Veränderung schon nicht so schlimm sein wird, dass sich mit ihr wird leben lassen, bis alles wieder so wird wie es war. Er spricht davon Monthy im Gefängnis öfter zu besuchen und sich immer um ihn zu sorgen, was Slaughty auf die Palme treibt.
Jakob weiß um das einschneidende Ereignis und er leugnet es dennoch, versucht es zu verdrängen. Er möchte sich, so meine Ansicht, möglichst noch das Gefühl von "Normalität" erhalten, selbst wenn Monthy dann im Gefängnis sitzt - und zwar so lange bis er wieder raus kommt und alles wieder so wird wie es war. Das noch als Ergänzung.

Ferner schreibt du...


Er sagt Jakob die Wahrheit knallhart ins Gesicht: Monthy hat drei Alternativen. Selbstmord, Gefängnis oder Flucht - die letzteren beiden Möglichkeiten werden dann im Folgenden noch eingehend thematisiert


Da stimmt und dies müsste noch weitergehend bsprochen werden, wenn wir den Film denn als Gleichnis auffassen. Machen wir das, auch wenn wir damit das Ende verraten?

Slaughty sagt übrigens nicht nur das. Er sagt auch, dass es so hat kommen müssen. Wenn wir den Anschlag des 11.September wirklich mit dem einschneidenden Erlebnis gleichsetzen, als die Polizei den Stoff in Monthy`s Wohnung fand - was sagt das dann über Amerika aus? Das habe ich mich gefragt. Hier ist doch der Gedanke implizit, dass Amerika Mitschuld an den Anschlägen trägt. Slaughty sagt doch, dass er seinen Freund Monthy immer wieder gewarnt und gewarnt hat, der jedoch immer weiter gemacht hat mit seinen - jetzt kommts - kriminellen Aktivitäten. Ich hab das jetzt nur mal angerissen, da wir uns hier wie ich finde auf sehr dünnem, spekulativen und vor allem heiklen Eis befinden...


Übrigens...


Ich denke, er repräsentiert in jedem Fall die aggressivere, opportunistische Reaktion


Wieso repräsentiert Slaughty die opportunistische Reaktion? Opportunistisch der Masse hinterherlaufend? Durch den Gegenpol Jakob wird doch gerade die Spaltung der Seelenlage der amerikanischen Nation thematisiert, oder?

MFG,

Hamburger
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Re: Die verwundete Stadt

Beitragvon gelbsucht » 08.08.2003, 18:36

Hallo Ham!

Ich greife noch mal die Diskussion auf – über diesen Film gibt es ja sicherlich noch einiges zu sagen.
Wieso repräsentiert Slaughty die opportunistische Reaktion? Opportunistisch der Masse hinterherlaufend? Durch den Gegenpol Jakob wird doch gerade die Spaltung der Seelenlage der amerikanischen Nation thematisiert, oder?

Richtig! Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Reaktionen auf schockierende und erschütternde Ereignisse zu tun: Slaughty blickt der Wahrheit ins Auge, er arrangiert sich mit der neue Situation – nicht ohne Kalkül und nicht ohne einen gewissen Zynismus. Er ist im Vergleich mit Jakob der Realistischere, aber auch der, der bereit ist, größere Risiken auf sich zu nehmen. Opportunistisch ist er insofern, da er es versteht, sich neuen Situationen schneller und flexibler anzupassen. Wie er mit Jakob über Monthy redet (oder wie er Naurelle konfrontiert), das hat auf mich zum Teil sehr abgebrüht und kalt gewirkt – als würde er nicht einen Funken Mitleid für den Freund empfinden.
Slaughty sagt übrigens nicht nur das. Er sagt auch, dass es so hat kommen müssen. Wenn wir den Anschlag des 11.September wirklich mit dem einschneidenden Erlebnis gleichsetzen, als die Polizei den Stoff in Monthy`s Wohnung fand - was sagt das dann über Amerika aus? Das habe ich mich gefragt. Hier ist doch der Gedanke implizit, dass Amerika Mitschuld an den Anschlägen trägt. Slaughty sagt doch, dass er seinen Freund Monthy immer wieder gewarnt und gewarnt hat, der jedoch immer weiter gemacht hat mit seinen - jetzt kommt's - kriminellen Aktivitäten. Ich hab das jetzt nur mal angerissen, da wir uns hier wie ich finde auf sehr dünnem, spekulativen und vor allem heiklen Eis befinden...

Tun wir das? Ich glaube schon, dass man das so deuten kann. Am Ende des Films spricht Monthy gegenüber Slaugthy etwas aus, was das noch unterstreicht. Er sagt ihm offen ins Gesicht, dass Slaughty bei sich auch insgeheim gedacht hat, dass er, Monthy, es irgendwie doch auch verdient hat, dass ihn die DEA ausgehoben hat. Wie lässt sich das deuten? Hier repräsentiert Slaughty vielleicht eine Reaktion auf die Ereignisse des 11. Septembers, die wir außerhalb Amerikas, außerhalb der westlichen Welt suchen müssen. Die Wahrheit ist, dass dieses Ereignis nicht überall nur Bestürzung, Trauer und Wut ausgelöst hat. Es gab auch eine andere Art von Reaktion: eine gewisse hämische Freude, und egal ob sie aus der Ecke fundamentalistischer Islamisten oder extremistischer Globalisierungsgegner kam, ihr war ein Gedanke gemeinsam: in gewisser Weise geschieht das Amerika zu Recht bzw. irgendwie sind die Amis ja selber dran schuld.
Er sagt Jakob die Wahrheit knallhart ins Gesicht: Monthy hat drei Alternativen. Selbstmord, Gefängnis oder Flucht - die letzteren beiden Möglichkeiten werden dann im Folgenden noch eingehend thematisiert

Das stimmt und dies müsste noch weitergehend besprochen werden, wenn wir den Film denn als Gleichnis auffassen. Machen wir das, auch wenn wir damit das Ende verraten?

Ja, wir sind so frei. Ich denke, was wir hier betreiben, ist ein Interpretation. Da kann man schon mal etwas weitergehen als bei einer schnöden Rezension. Der Film ist also ein Gleichnis, bevor wir aber das Ende besprechen, sollten wir uns der Szene vor dem Spiegel widmen. Denn meiner Meinung nach besteht der Film aus drei Schlüsselszenen:
  • Ground Zero: Slaughty und Jakob reden über den abwesenden Monthy
  • Monthy in der Bar seines Vaters, auf der Toilette steht er vor einem Spiegel auf den jemand "fuck you" geschmiert hat ... ein Monolog beginnt.
  • Das Ende, wo die zwei Alternativen "Gefängnis" und "Flucht" näher thematisiert werden, wobei nicht klar wird, wie es ausgeht.
Zu der ersten Szene haben wir jetzt schon eine ganze Menge gesagt. Dann also mal weiter: Monthy trifft sich an diesem letzten Tag, den er in Freiheit verbringen soll, mit seinem Vater zum Abendessen. Hier erfahren wir auch ein wenig über Monthy's Vergangenheit. Der Vater sucht nach Ursachen und auch die Schuld bei sich. Im Hintergrund sieht man eine zusammengefaltete amerikanische Flagge und einige Bilder von Feuerwehrleuten! Man merkt, wie Monthy mit sich kämpft, als ob ihm ein dicker Kloß im Hals sitzen würde. Sein Vater spekuliert, was aus Monthy hätte alles werden können, wenn, ja wenn ... irgendwie wird es Monthy dann zuviel und er "flüchtet" sich auf die Toilette. Dort steht er dann im Zwielicht vor einem Spiegel und unten rechts auf dem Glas hat jemand mit Edding geschrieben: "fuck you". Und Monthy sagt: "Ja, fick dich." Und sein Spiegelbild verselbstständigt sich und geifert los. Es zieht her über den ganzen multikulturellen Schmelztiegel New Yorks: die Schwarzen, die korrupten Cops, die Koreaner mit ihren Gemüseläden, die Sikhs mit ihren zerbeulten Yellow Cabs, die Italiener aus Brooklyn in ihren Trainingsanzügen, die alten, gelifteten Schabracken der Upper Eastside, die zuckerlutschenden Russen, die Diamanten feilbietenden Juden, die aalglatten Wallstreet Broker ... Und immer wieder: "Fickt euch, ihr ...!" Von sehr bunten, überzeichneten und grotesken Bildern, wird dieser Wutausbruch untermalt. Dann eine Pause. Sein Spiegelbild schaut ihn an und sagt: "Nein, fick dich, fick dich selbst Montgomery!"

Ich gebe die Frage weiter: Was bedeutet das? Was besagt das Gleichnis damit?

:-)) gelb ;-)
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