von Sergi Belbel
Hamburger Kammerspiele 2003
Regie: Helmut Strauss
Mit: Jenny Gröllmann, Andrea Lüdke, Laura Maire, Oscar Ortega Sánchez, u.a.
Der Intendant und die Verantwortlichen der Hamburger Kammerspiele hatten sich entschieden, dem Stück von Sergi Belbel noch eine Szene voranzusetzen, als hätten die fünf Szenen, aus denen „Das Blut“ besteht, noch nicht ausgereicht. Ham und ich waren eine halbe Stunde zu früh und, als wir das Theater an der Hartungstraße betraten, drückte uns eine freundliche junge Frau einen Flyer in die Hand und lud uns zu einem Vorgespräch ein. Ungewiss und gespannt, was uns erwartete, setzten wir uns in das Café des Theaters. Hams Mineralwasser kam, mein Cappuccino kam und kurz darauf kam Mathias Kosel, seines Zeichens Oberspielleiter des Etablissements – was auch immer man sich darunter vorzustellen hat. Er brachte sich in Position, begrüßte seine Zuhörer. Er bat uns, sich auf das Kommende einzulassen. Er redete auf uns ein, als stände uns die Angst im Gesicht, als gälte es unsere schlimmsten Befürchtungen zu glätten, als wären wir gefährdet, an diesem Abend einen furchtbaren Schock zu erleiden. „Der Horror wird nicht gezeigt, er liegt im Gedanklichen und in der Konfrontation mit Emotionen. Grotesk ist die Paarung des Komischen mit der Tragik, die Begegnung der Alltäglichkeit normalen Lebens mit der Absurdität des Terrors.“ -- „Sie alle kennen den Schrecken! ... Es gibt kleine Schrecken, es gibt große Schrecken.“ -- „Lassen Sie sich darauf ein. Theater ist Emotion.“ „Ach was?“, sagte ich und Hamburger kniff sich unterm Tisch in den Schenkel, um nicht laut loszulachen. Wir kamen uns vor, als wären wir in einem Sketch von Loriot gelandet. Dann holte der Herr Oberspielleiter erst richtig aus: Er sprach von den Anleihen des Stückes bei Beckett, von der Verspieltheit der Szenen, die an Shakespeare erinnere, von der tieferen Bedeutung und den ein- und zweideutigen Hinweisen auf Sartre: „Die Scheiße und das Lachen, das Sein und das Nichts“, wie es im Stück heißt. Beckett mal Shakespeare mal Sartre hoch zwei? Unsere Erwartungen stiegen ins Unverschämte. Fast flehte er uns an: „Lassen Sie sich darauf ein!“
Die Komödie nahm kein Ende. Lang und ausführlich, mit aller gebotenen Überzeugtheit von sich selbst, drängte man uns eine fertige Interpretation des Stückes auf, bevor wir noch eine Szene gesehen hatten. Wir wurden aufgeklärt und eines Besseren belehrt und der unangenehme Beigeschmack, den jede Art der Bevormundung mit sich bringt, stellte sich auch bei uns ein. In dem Flyer, den man uns eingangs überreicht hatte und der vom Intendanten der Hamburger Kammerspiele, Axel Schneider, höchstpersönlich unterzeichnet war, bekamen wir folgendes zu lesen:
Das Blut ist ein Stück über Terrorismus ... Das Blut ist eine Geschichte von der Macht des Geistes über die Ohnmacht der Ideologie, von der Konfrontation zweier Generationen in einem moralischen Ausnahmezustand, die auf einem aktuellen Fall aus dem Jahre 1995 basiert.
Für alle, die nicht lesen konnten oder etwa nicht lesen wollten, war der Herr Oberspielleiter erschienen. Er käute den Inhalt noch einmal wieder und trat ihn dann noch ein bisschen breit. Das versprochene Vorgespräch wurde zum Monolog. Ich blätterte derweil im Programmheft, wo ein echtes Gespräch mit dem Autor, Sergi Belbel, abgedruckt wurde:
Frage: Was führte zu das Blut?
Belbel: Ich würde nicht von einem konkreten, realen Ereignis sprechen ... „Das Blut“ ist in keiner Weise ein Stück über den Terrorismus.
Spätestens jetzt fühlte ich mich verarscht. Es tut mir leid, aber anders kann man es nicht ausdrücken.
Aber worum geht es jetzt eigentlich in dem Stück?
Die Frau eines hochrangigen Politikers, eine Philosophieprofessorin, ist von Geiselnehmern in ein Verlies verschleppt worden.
Von ihren unmaskierten Bewachern erfährt sie, dass über sie eine 40-Stunden-Lebensfrist bis zur angedrohten Hinrichtung verhängt ist, auf die alle zehn Stunden mit der Abtrennung eines Körperteils hingewiesen werden soll.
Dabei gliedert sich das Stück in fünf Szenen auf. Die erste und letzte Szene zeigen die direkte Konfrontation der Geisel mit denen, die sie gefangen halten und verstümmeln. Die Szenen zwei bis vier sollen dann begreiflich machen, „wie das Grauen auf den Alltag übergreift“. Ein Junge und ein Mädchen im Park werden zu ahnungslosen Findern des abgetrennten Fingers, einem Polizist und einer hochschwangere Polizistin wird das Ohr überreicht und die Geliebte des Politikers, dessen Frau das Opfer ist, bekommt den Fuß zugestellt. Also für jedes Körperteil eine Szene. Gerade diese mittleren Szenen sind vollkommen lächerlich und überflüssig und die Schreck- und Schock-Reaktionen beim Auspacken des jeweiligen Körperteils gleichermaßen unglaubwürdig, so wie die schauspielerische Leistung aller Beteiligten sich insgesamt eher auf dem Niveau von Laien bewegt. Eine Stunde 9Live ist zweifelsohne interessanter und unterhaltsamer als dieses Theaterstück. Die politischen und gesellschaftskritischen Äußerungen in „Das Blut“ sind platte und inhaltsleere Phrasen. Ich bin überzeugt, dass Schüler aus der 9. oder 10. Klasse (Realschule oder Gymnasium) ohne weiteres in der Lage wären, etwas Vergleichbares zu schreiben, wenn nicht gar etwas besseres.
Wer in der nächsten Zeit Hamburg bereist, dem kann ich als Alternative das Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow empfehlen, das von Jan Bosse am Deutschen Schauspielhaus Hamburg inszeniert wurde.
Auch in Tschechows vorletztem Theaterstück wird viel über das Leben geredet und wenig davon verwirklicht. Meistens spricht man dabei aneinander vorbei. Nichts klärt sich im Gespräch, ohne Richtung gerät alles in die Schwebe, ins Mögliche, ins Flüchtige. Alles bleibt Skizze, während das Leben unbemerkt gleichzeitig als "Reinschrift" vorübergeht. Das Gefühl des Nutzlosen, Sinnlosen und Grundlosen in allem, was getan werden könnte, scheint so groß und der Vergänglichkeit und Unbeständigkeit geweiht, dass gar nicht erst damit begonnen wird, Pläne zu verwirklichen.