Alternativen zum Schwachsinn

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
gelbsucht
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Alternativen zum Schwachsinn

Beitragvon gelbsucht » 20.11.2003, 23:09

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Wilbur wants to kill himself

Dänemark, Großbritannien, Deutschland 2002, 106 Min.
Regie: Lone Scherfig

Es ist einer von diesen ruhigen, schlichten Filmen, die ich so mag, weil sie von einfachen Menschen handeln und dabei auf all den unnötigen Firlefanz verzichten, den schlechte Filme brauchen. Es ist ein lustiger und zugleich sehr tragischer Film.

Wilbur (Jamie Sives) will sich umbringen. Weder sein Verstand noch sein Charme, der insbesondere auf Frauen eine besondere Anziehungskraft ausübt, kommen gegen seine abgrundtief pessimistische Lebenseinstellung an. Sein unverbesserlich optimistischer Bruder Harbour (Adrian Rawlins) hat sich deshalb Wilburs Wohlergehen zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Die exzentrischen Brüder leben in Glasgow über der heruntergewirtschafteten Second-Hand-Buchhandlung „North Books“ – dem einzigen Erbe und Andenken an ihren kürzlich verstorbenen Vater.

Nach einem weiteren Selbstmordversuch Wilburs befinden Harbour, der zynische Krankenhaus-Psychologe Horst und vor allem die äußerst einfühlsame Oberschwester Moira, dass Wilbur eine Freundin braucht. Doch kurz darauf ist es nicht Wilbur, sondern der ältere Bruder, der die Liebe findet – in Gestalt der schüchternen, allein stehenden Mutter Alice (Shirley Henderson), die als Putzfrau nachts im Krankenhaus von Patienten zurückgelassene Bücher sammelt, um sie dann an „North Books“ zu verkaufen. Bald schon ziehen Alice und ihre kleine Tochter Mary zu dem ungleichen Brüderpaar, wo sich Alices Schneckenhaus langsam öffnet. (ottfilm)

Schnell werden alle vier Charaktere einschließlich Mary unzertrennlich - und unerwartet glücklich. Bis sich das Schicksal nochmals wendet und beschließt, dass nicht Wilburs, sondern Harbours Tage gezählt sind ...

Jamie Sives' Wilbur ist auf selbstzerstörerische Weise egozentrisch, ohne dass man den Gründen für seine Lebensverzweiflung näher kommen muss; Adrian Rawlins älterer Bruder dagegen in selbem Maße selbstlos und liebenswert mütterlich, und Shirley Henderson trifft nicht ein einziges Mal den falschen Ton als unsichere und scheue, sich vorsichtig öffnende Singlemutter, die beide Brüder zugleich mit ihrer Stärke und ihrer Verletztheit verzaubert. Mads Mikkelsens Psychiater Dr. Horst ist zynisch und dänisch wie nur möglich, und Julia Davis eine hinreißend verrückte Krankenschwester, deren "beinahe hundertprozentig organischer Lifestyle" so spektakulär ist wie ihr Hang, in Fettnäpfchen zu treten. (Blickpunkt: Film)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

gelbsucht
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Re: Alternativen zum Schwachsinn

Beitragvon gelbsucht » 20.11.2003, 23:11

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Secretary

USA 2002, 104 Min.
Regie: Steven Shainberg

Lee Holloway (Maggie Gyllenhaal) wartet vor einer Psychatrie-Klinik darauf, abgeholt zu werden. Sie hat diese gerade verlassen und wirkt ziemlich unbeholfen und jenseits aller weiblichen Anziehungskraft. Ihre amerikanisch überschminkte Mutter fährt sie mit einem ebenso amerikanisch überstrapazierten Versuch von Wiedersehensfreude nach Hause. Ein Zuhause, das nicht nur so schön bonbonfarbigbunt und fröhlich ist, weil gerade die Hochzeit von Lee's Schwester gefeiert wird. Natürlich verbirgt sich unter der klebrigen Zuckerschicht ein unglückliches Beziehungsgeflecht und jede Menge Unzufriedenheit. Kaum zu Hause verpasst sich Lee auch schon wieder fast genüsslich die ersten Schnitte ins eigene Fleisch, um das Unerträgliche mit dem Schmerz zu kompensieren. Nach außen hin spielt sie das normale Leben, besucht einen Schreibmaschinenkurs und nimmt eine Stelle als Sekretärin des Rechtsanwalts E. Edward Grey an. (A. Goschek, biograph)

Was zunächst als – wenn auch nicht ganz normale – Arbeitsbeziehung beginnt, gleitet mehr und mehr in eine auf lustvolle Erniedrigung und Dominanz basierende S/M-Affäre zwischen Chef und Sekretärin über. Je intensiver und obsessiver ihre Beziehung, desto größer wird die erotische Anziehung. Lee entdeckt eine neue Welt, in der Schmerz nicht mehr einzig ein Gefühl der Erleichterung ist, sondern eine Brücke zur Liebe. Doch was für Lee eine Befreiung aus alten Zwängen wird, ist für Edward Grey (James Spader) der Beweis seiner eigenen Perversion, die er mit allen Mitteln zu unterdrücken sucht. Erschrocken über die Intensität seiner Gefühle zieht sich Edward Grey von Lee zurück und kündigt ihr schließlich den Job. (Arsenal Film)

Das Schöne an dieser Geschichte ist, dass sie sich weitestgehend auf die beiden Hauptpersonen konzentriert und damit auch auskommt. Der Film bewegt sich jenseits der Klischees, es ist nicht einfach eine Liebesschnulze oder ein Plädoyer für brutalen S/M. Der Film geht sehr viel subtiler, feinfühliger und witziger zu Werke. Er gibt seinen Figuren Raum, sich zu entwickeln. Lee gewinnt in dieser merkwürdigen Beziehung zu ihrem Chef deutlich an Selbstbewusstsein und Halt im Leben, sie mausert sich von einer grauen Maus zu einer jungen und attraktiven Frau. Aber ihr Chef, E. Edward Grey, ist auch nicht einfach der dominante, tonangebende Herr in dieser Beziehung. Im Gegenteil James Spader mimt einen sehr schüchternen und sensiblen Menschen, hinter dessen gefasster und autoritärer Fassade sich ein Mann verbirgt, der im Hader liegt mit seinen eigenen Neigungen und Vorlieben und am Ende Angst vor der eigenen Courage bekommt, unfähig sich seine eigenen Gefühle einzugestehen und sie zu zeigen.
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Re: Alternativen zum Schwachsinn

Beitragvon gelbsucht » 20.11.2003, 23:13

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Luther

Deutschland, USA 2003, 123 Min.
Regie: Eric Till

Verdammt, ich mag diese historischen Stoffe. Es ist, denke ich, einfach eine der spannendsten Geschichten, die unser Land zu bieten hat und Luther eine der interessantesten und genialsten Köpfe, die es hervorgebracht hat. Ein Mann lehnt sich auf gegen die Ungerechtigkeit und vertritt "seine Sache gegen die stärkste Macht der Welt" – den Pabst und die katholische Kirche in Rom. Es ist die ungeheuerliche Geschichte von einer Revolution, von einem Kampf um Macht und Ideologie, in dem viele Menschen ihr Leben gelassen haben.

Wir schreiben das Jahr 1505: Der junge Martin Luther gerät in ein grauenvolles Unwetter, ein Blitz verfehlt ihn nur knapp. Zu Tode geängstigt gibt er sein Studium der Rechte auf und wird Mönch im Augustiner-Kloster zu Erfurt. Nach seiner Pilgerfahrt nach Rom 1510 geht er zum Theologiestudium nach Wittenberg, wo er 1517 seine 95 Thesen als Protest gegen den von Papst Leo X. initiierten Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche schlägt. 1518 verlangt Rom den Widerruf der Thesen. Doch Luther bleibt standhaft. Auch vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms (1521) erkennt er nur eine Autorität an: die Bibel. Vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser geächtet, wird Luther zum Ketzer erklärt. Um sein Leben zu retten, lässt Friedrich der Weise ihn auf die Wartburg entführen. Dort übersetzt Luther innerhalb von elf Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche. Seine Lehren finden immer mehr Anhänger. Doch der Preis dafür ist hoch: Entsetzt muss Luther erkennen, dass nicht nur die Bauern ihn gründlich missverstehen. Ihr Aufstand wird von den deutschen Landesfürsten blutig niedergemetzelt. (ottfilm)

Den Luther spielt Joseph Fiennes, schon bekannt aus historischen Stoffen wie "Elizabeth" oder "Shakespeare in Love". Ich muss aber gestehen, dass mich sein Spiel nicht ganz überzeugt hat, weil es mir bisweilen etwas zu deutlich und theatralisch vorkam. Aber der Film wurde auch mit vielen namhaften deutschen Schauspielern besetzt, was ihm eindeutig gut getan hat, z.B. Uwe Ochsenknecht als Pabst Leo X. und Mathieu Carrière als Kardinal Cajetan. In der Rolle des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, der schützend seine Hand über Luther hielt, gibt es einen ebenso kauzigen wie genialen Sir Peter Ustinov zu sehen, der alle anderen locker in den Schatten stellt.

;-) gelb :-)
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Re: Alternativen zum Schwachsinn

Beitragvon Hamburger » 12.12.2003, 22:00

Hallo gelbe Sucht!

Ich habe "Secretary" auch gesehen und fand ihn klasse. Zwei Fragen habe ich allerdings zu deiner Kritik, zwei Dinge wollen mir nicht so total einleuchten.

Du schreibst...


Der Film geht sehr viel subtiler, feinfühliger und witziger zu Werke. Er gibt seinen Figuren Raum, sich zu entwickeln.


...und das kann ich alles unterschreiben. Bis auf "witziger". Klar, jeder Film hat seine lustigen Momente. Aber die waren hier doch recht dünn gesät. Ich fand, es kam nicht viel über das man wirklich lachen konnte. Und weiterhin fand ich, dass dies dem Film sehr gut getan hat. Weder wurde er moralinsauer noch wurden seine Hauptfiguren lächerlich gemacht. Vielleicht irre ich mich, aber "witzig" ist ein Prädikat, welches ich diesem Film nicht verleihen würde.

Ferner muss ich aus dem Nähkästchen plaudern. Du sagtest mir, du hättest durchaus eine zweigeteilte Meinung zum Film. Das kommt in dieser Kritik aber nicht heraus. Worin beteht diese zweigeteilte Meinung?

Ach ja, und ist dir aufgefallen, dass man auch hier einige Parallelen zur "Klavierspielerin" ziehen könnte (die Diskussion ums Buch läuft ja phänomenal, wie ich gesehen habe :-& ). Die deutlichste Parallele sind die Schnitte, die Lee sich verpasst, aber auch sie macht eine Entwicklung durch - vom Mauerblümchen mit geheimen erotischen Phantasien zu einer Person, die alles auf eine Karte setzt um ihre sexuelle Identität zu finden und zu leben. Allerdings schafft sie es - im Gegensatz zur armen Erika.

Zum guten Schluss möchte ich noch die Schlussszene erwähnen - die tote Kakerlake auf dem Bett. Das ist doch wirklich genial gemacht. Auch der letzte Blick von Lee in die Kamera. Phantastisch. Es ist in guten S/M-Beziehungen ja durchaus nicht der Fall, dass die gemeinsame Vorliebe oft und mit Hingabe thematisiert wird. Auch Sadisten/Masochisten haben meist noch ein ganz normales Leben neben ihrer sexuellen Vorliebe, wie eben die meisten anderen Paare auch. Interessant ist, wie man sich darauf aufmerksam macht, dass man sich praktizierten S/M wünscht. Der masochistische Teil hats da leichter - er provoziert. Was Lee gegen Ende in Perfektion erlernt hat.

MFG,

Hamburger
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