Geliebt sei, wer sich hinsetzt.

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
gelbsucht
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Geliebt sei, wer sich hinsetzt.

Beitragvon gelbsucht » 29.08.2002, 19:28

"Songs from the second floor"
Regie und Buch: Roy Andersson
Spezialpreis der Jury in Cannes 2000

"Es ist vor allem ein bizarrer Film, der den Daseinkampf in der westlichen Gesellschaft und dessen Aberwitz bildgewaltig und mit einem feinen Sinn für das Absurde zeigt. Jenseits jeder narrativen Konvention wird das Leben in surrealen Tableaus zum Warten in einer Vorhölle stilisiert, durch die uns der Regisseur mit apokalyptischen Humor hindurchführt: In einer namen- und gesichtlosen Stadt geschieht Sonderbares - ein Magier sägt bei einem alltäglichen Bühnentrick einen Mann an; Büromenschen ziehen als selbstkasteiende Flagellanten durch die Straßen; ein kleines Mädchen wird den Göttern der maroden Volkwirtschaft geopfert. Inmitten des zunehmenden Chaos steht Karl, dem stetig bewußter wird, wogegen seine Umwelt immer mehr abstumpft: die Absurdität der modernen Welt und dem was es heißt, ein Mensch zu sein." (A.S. Herling)

Ähnlich, wie schon "Hundstage", hat mich auch dieser Film sehr bewegt und einen tiefen Eindruck in meinen Gedanken hinterlassen. Wenn ihr in einer größeren Stadt oder in der Nähe einer solchen wohnt, und, wenn es dort ein paar gescheite Programmkinos gibt, dann versäumt nicht, euch diesen Film anzuschauen. Es lohnt sich, das kann ich euch versichern. Bedauerlich ist vielleicht nur, daß es sich dabei um ein schwedischen Film handelt für den (anscheinend) keine Synchronfassung vorliegt: nie zuvor haben mich die Untertitel eines Films so gestört, denn jedes Bild, jede Szene verdient eigentlich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Kinobesuchers. Dieser Film ist keine Unterhaltung mehr, sondern ein Kunstwerk. Daß Kunst anstrengend sein kann, wissen wir. Das läßt sich eben nicht mit einem halbwegs zufriedenstellenden Produkt aus Hollywood vergleichen, das man nach vollendetem Genuß, etwas benommen und taumelig, bald vergessen hat - bis es auf Video erscheint, bis es ins Fernsehen kommt und diesen lustigen Effekt bewirkt, den wir déjà-vu nennen. Dagegen ist der Film "Songs from the second floor" angelegt, den Kinobesucher zu verwirren, ihm Fragen aufzugeben, die ihn noch einige Zeit beschäftigen werden, ja, es ist ein Film, der verdient, diskutiert zu werden.

Ich habe mich, was die Inszenierung angeht, an Filme wie "Clockwork Orange" oder "Odyssey 2001" von Stanley Kubrick erinnert gefühlt, thematisch lassen sich konkrete Bezüge zu Monty Python's "Der Sinn des Lebens" erkennen. Unwillkürlich muß man bei einigen Szenen aber auch an die Romane und Erzählungen von Franz Kafka denken. Es geht in diesem Film um die Sinnlosigkeit und die Absurdität der westlichen Welt, des Wirtschaftssystems, der Kultur, der Lebensformen. Der Film kommt aber nicht als pauschale Anklage daher, sondern als Satire, die sich manchmal feinfühlig und detailverliebt, manchmal brachial und trocken den Gegenständen ihrer Kritik widmet. Mit Verwunderung mußte ich im Kino feststellen, wie wenig gelacht wurde, obwohl der Film äußerst lustig ist, auch wenn es sich dabei um einen sehr derben, teilweise schwarzen Humor handelt. Doch oft bleibt einem das Lachen im Halse stecken ... man schwebt quasi während des gesamten Films zwischen Lachen und Erschütterung, zwischen Lächerlichem und Schreckenvollem. Es ist ein Seilakt, den der Regisseur hier vollzogen hat. Die Figuren der Erzählung wirken oft wie gelähmt, wie aufgestellt, wie deplaziert, wie erstarrt. Jedes Bild entfaltet so gleichnishaften Charakter, der durch eine sehr eindruckvolle, erdrückende, manchmal futuristische Kulisse mit weit entfernten Fluchtpunkten häufig noch verstärkt wird. Den makroskopischen Ansichten und Weitwinkeln der namenlosen Großstadt, der Großstadt, die hier zum Symbol für jede beliebige stilisiert ist, wird zugleich das Private bürgerlicher Interieurs gegenübergestellt, die aber nicht wohnlich wirken, sondern wie Zellen und Käfige, deren Beschränkung, Trostlosigkeit und Enge nur mit vergilbten Bildern, Teppichen und Plüsch kaschiert wurde.

Ein düsteres, aberwitziges, schauderlich-schönes Endzeit-Panoptikum.
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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