"Lieber Gott, ein Jahr hätt ich ja noch Bock..."

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
Hamburger
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"Lieber Gott, ein Jahr hätt ich ja noch Bock..."

Beitragvon Hamburger » 20.07.2004, 20:45

Hallo ihrs,

ich setz mal meine "Mini-Serie" der Durchschnittsbewertungen fort. Diesmal im Programm: der aktuell in unseren Kinos laufende Film "Höllentour".

Vorneweg: Dies ist wieder einer der Filme, der dermaßen gute Kritiken erhielt ("faszinierend", "bewegend", "aufwühlend" etc.) dass ich mit einer grossen Erwartungshaltung das Kino betrat. Vielleicht war ich deshalb ein wenig enttäuscht.

Die "Handlung": Diese Dokumentaton begleitet das Team Telekom durch die letztjährige Tour de France 2003 und konzentriert sich maßgeblich auf zwei Fahrer: Rolf Aldag und Erik Zabel (beides Zimmergenossen).
Vom restlichen Team erfährt man noch ein bisschen was über Andreas Klöden und Alex Winokurow, der Rest wird kaum mit Namen benannt, mit Ausnahme des Masseurs Eule, dessen Statements sich aber nahe am Rande der Alterssenilität bewegen.
Die Dokumentation, deren Verdienst es sein soll, die Ambivalenz der Fahrer zwischen dem unmenschlichen Leiden auf der einen Seite und der Leidenschaft für ihren Sport auf der anderen Seite, tiefgründig darzustellen, startet überraschend
witzig.
Besonders Erik Zabel tut sich hier hervor. So lautet seine Antwort auf das Mitleid seines Partners Aldag, als Zabel in einen Sturz verwickelt und an der Hand verletzt wird:"Siehst du, Rolf, das ist der Unterschied, als du dir letztes Jahr die Rippe gebrochen hast war mir das scheissegal."
So geht es eine ganze Weile im ersten Drittel der Doku. Zabel trägt sie durch seine Witzchen und seine charmant bubenhafte Art.
Selbstverständlich werden dann auch ein paar Stürze gezeigt (unter anderem der Hammer-Sturz von Beloki) und die Fahrer berichten abends wie kapputt sie sich fühlen. Aber das alles machte wenig Eindruck auf mich. Aus zwei Gründen:

1. Zabel nimmt man es nicht mehr ab, wenn er sich ernsthaft äußert. Als er völlig ausgepumpt dem Masseur nach einer Etappe klagt wie schlecht er gefahren ist lachte sich das Kinopublikum eckig. Er wird einfach zu einseitig dargestellt. Seine wenigen ernsten Statements kauft man ihm nicht ab.

2. Diese Doku hat kaum einen roten Faden. Über das Tourgeschehen 2003 erfährt man nur am Rande etwas, was man noch verstehen kann, ging es ja darum ein Team zu begleiten und zu erforschen. Aber erforscht wird im eigentlichen Sinne nichts. Wie die Strategie des Teams vor der Tour war, wie sie laufend geändert wurde, wie ein Feld sich während einer Etappe organisiert, welche Typen es im Radsport gibt (Wasserträger, Kletterer, Sprinter etc.) und was sie auszeichnet, wie man eine Lücke zufährt und Ausreißer stellt oder gewähren lässt - diese Doku sagt darüber nur in Spurenelementen etwas aus.
Stattdessen fast die gesamte Zeit derselbe Stil: Ästhetisierende, durchaus beindruckende Tourbilder, die Fahrer im Hotel, Zabel macht Witzchen, Masseur Eule redet Unverständliches, Ästhetisierende Tourbilder...und so geht das immer weiter -129 Minuten bis zum Schluss.

Die Rückgriffe auf alte Fernsehbilder von früheren Touren (mit einem erz-patriotischen französischen Präsentator, der dreimal so schnell reden kann wie ich, was schon einges heisst) können da auch nicht mehr viel retten, genausowenig wie die wenigen interessanten Statements der Fahrer. (Verletzungen blutet man per Cut aus, Beine rasiert man sich ständig da man ja stürzen könnte)

Fazit: Ein sehr oberflächlicher, kaum mitreißender Blick auf die Tour de France, der zudem - eines der größten Mankos - das Thema Doping völlig außen vor lässt.
Wer allerdings gern mal mit Zabel Erik lachen möchte, dem selbst nach 250 km am Tag noch gute Witze einfallen (zitiert z.B. die Fanta 4) ist hier garantiert richtig.

Viele Grüße,

Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

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