Der Arzt wurde ins Büro des Untersuchungsbeamten geführt, begleitet von einer jungen Polizistin, die, obwohl stramm und strukturiert auftrat, sehr feminin wirkte. Ihre Backen leuchteten rot, an diesem Montag in der Früh.
„Wie geht's der Familie?“, fragte der Beamte wie aus der Pistole geschossen, feist grinsend. Man hatte den Eindruck, dies war ein häufig stattfindendes Zeremoniell. Jedes Mal, kam die Beamtin, wurde auf dieser Saite gespielt. Die Polizistin streckt wie abwehrend ihren Ehefinger mit Goldring nach vorne und antwortet genauso breit grinsend, im Ton: Was wollen Sie, bei mir ist immer alles in bester Ordnung.
„Und selber? Die Gemahlin schon übern Berg?“
„Ja, mittlerweile schon. Bei der exzellenten Betreuung!" Damit meinte sich der Kriminaler selbst. Die Polizistin zeigt daraufhin das denkbar aasigste Lächeln, bevor sie wie vom Blitz geleitet verschwunden ist.
Der Arzt wird daraufhin betrübt, denkt neidisch, ach, wie schön, so ein harmonisches Eheleben. Seines war down-under, aber völlig. Seine verkorksten Entschuldigungen brandeten bei seiner Gemahlin wie an einer schweigenden Mauer ab oder wurden von einem aufschreiendem Schwall von Gezeter verschluckt. Sie war heute aus dem trauten Ehehaus gezogen samt Kindern und hatte sich bei ihrer Herkunftsfamilie verschanzt.
Was das noch geben würde?
Zum Glück hielt sich der Kriminaler nicht länger auf und begann mit Folgendem: „Wir stehen vor einem Rätsel. Es sind so viele Fragen offen, dass wir gar nicht wissen, wo anfangen? Wüßten wir nur das Motiv?“
Der Arzt schaut verschämt in eine Ecke und denkt, nichts lieber als es ihnen zu präsentieren wäre mir und ein leichtes zudem, denn bei mir kommen fast alle Motive dieses Verbrechens zusammen. Jedoch schweigen muß ich, um mich nicht selber zu belasten. Bei Antworten war Vorsicht angesagt.
„Es befanden sich zum Zeitpunkt der Entführung 1000 Euro (Schwarzgeld) in meiner Tasche. Diese entdeckten die Ganoven. Daraufhin wurden sie zur Erpressung verführt. Sie gingen davon aus, dass bei mir mehr herauszuholen war, mehr, viel mehr. - Wie bitte, woher die Tausend Euro kommen? Das ist unversteuertes Mietgeld unseres vierten Hauses. Darin wohnt ein Grieche. Der hat durch sein Restaurant immer schön Schwarzgeld. Vor Monatsende steckt er mir das jedesmal zu.“
Nein, das ging nicht!
Er saß ganz schön in der Zwickmühle!
Wovon der Arzt ausging: die Behörde wusste nur vom Videoclip, das auf eine Internetseite gestellt worden war. Diese Annahme war insofern richtig, als weder er noch der Hauptkommissar wussten, dass Blondy nicht nur dieses Szenario, sondern auch, weil der Camcorder weitergelaufen ist, das anschließende Gespräch mit der Offenlegung des Schwarzgeldes aufgezeichnet hatte. Dieses befand sich auf dem Computer. Zum Glück des Arzt war dieser bislang noch nicht ausgewertet worden.
Des Kommissars Tappen im Dunkeln war von daher richtiggehend rührig.
Dieser stellte folgende Überlegungen an.
'Stecken Arzt, Polizist und dieser Ernst unter einer Decke? Ein Familienkomplott sozusagen. - Oder wollte der Arzt allein seine Familie erpressen, indem er sich entführen ließ von zwei gedungenen Gaunern? Diese haben ja die Dienstpistole von des Polizisten-Neffe gehabt, die ihnen in diesem Fall der Arzt hat zukommen lassen, weil der Polizist sie ihn entweder geliehen hat oder vom Arzt beklaut worden ist? Wo? Bei ihm Zuhause? Der Arzt ist davon ausgegangen, dass er die Pistole nach der Entführung wieder klammheimlich zurücklegen kann.
Hm... - Und welche Rolle spielte dabei eigentlich Ernst? War er zufällig dem Geschehen in die Quere gekommen?'
So viele Fragen...
Der Polizist schaut verschämt in eine Ecke – zuvor sich noch kollegial begrüßt, er als Verkehrspolizei, der andere als Kriminaler, beiden wohl bewusst, ein Rahmen verbindet sie, in der gleichen Institution tätig, beim Staat und zudem privilegierte Beamte zu sein, aber besondere Pflichten zu haben.
Das befeuert das Problem. Der Verkehrspolizist denkt fortgesetzt, er habe mit seinem Verhalten und seiner Rolle bei der Entführung die Lizenz zum Polizisten verspielt, um so schmerzlicher, als er sich bislang immer als mit Haut und Haaren ehrbarer Vertreter dieses Berufstands gesehen hat.
„Du weißt Kollege, ich muss Dir unangenehme Fragen stellen!“, kommt es zunächst im vertraulichen Tonfall. So fing das immer an, Otto nickt schweigend dazu, auf alles gefasst. Aber er hält es sich stets vor Augen: Familie ist das eine, Beruf das andere.
Er weiß, der totalen Lächerlichkeit ist er ausgesetzt: den Cabrio einen Tag vor der Geldübergabe auf eigene Faust inspiziert und so unvorsichtig dämlich verhalten zu haben, dass er eine über die Birne gekriegt und ein Niemand von Kleinkrimineller ihm mir nichts dir nichts die Dienstpolizei entwendet hat.
Das war schon schlimm!
Schlimmer aber noch war diese Verheimlichung jetzt dem Diensthabenden gegenüber.
Das Gefühl des Unbehagens steigerte sich von Sekunde zu Sekunde ins schier Unerträgliche. Hilfesuchend schaut er in des Hauptkommissar Gesicht, wendet wieder den Blick schnell woandershin und zum Fenster hinaus.
Durch diesen sieht er eine Taubenschar auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Diese Tiere verschissen dort die Balkone, dass es zur wahren Landplage geworden war. Der Hygiene wegen hatten die Mieter ihre Balkone mit Eisendraht vernetzt, was zwar die Verunreinigung abhielt, aber die Sicht mit einem Gitternetz verunzierte. Von daher mussten sie sich wie eingesperrt vorkommen – wie im Gefängnis.
Auf seiner Brust lastete ein Zentner Betonsack. Wer weiß, was die Ermittler nicht alles im Hintergrund hatten oder noch herausfinden würden? Aber noch wichtiger war ihm die Aussicht, ob er sich wie im Gefängnis vorkommen wird, verwoben und verstrickt in Lügen, Halbwahrheiten und Vertuschungen. Wie, wie hinter Gittern. Er war doch Polizist!
„Wie kommt es nur, dass die Gauner Deine Dienstpistole hatten, als man sie aus dem Autoblech herauspellen musste?“
Er zuckt die Schultern. Noch kann er Widerstand leisten, ein Trotz gegen die Preisgabe der Lächerlichkeit. Andererseits denkt er aber, wenn ich nicht das Übel an der Wurzel packe, packt es mich.
„Kann es vielleicht sein, dass...“
Idiotisch, sich Gitternetze vor das Fenster zu hängen, um sich selbst einzusperren. In solch einem Fall hilft nur eins, meint der Polizist-mit-Haut-und-Haaren: Reduktion der Überzahl, sprich Tauben vom Dach schießen oder seinethalben auf eine andere, etwas humanere Weise eliminieren, jedenfalls gab's nur eins: weg mit den Tauben. Oder?
Er sieht gegenüber auf dem Hausdach plötzlich einen Schwarm sich mit schlagenden Flügeln in die Lüfte erheben und er beginnt automatisch dazu zu sprechen: „Am Sonntag, vor dem Tag der Geldübernahme, die war ja am Montag...“
Stocken.
Der Kriminaler schwieg, um den Polizisten Zeit zu lassen, reinen Wein einzuschenken.
„Als ich also am Sonntag zu dem Fahrzeug gefahren bin, um die Umstände der Geldübergabe noch einmal abzuchecken...“
„Natürlich!“ Das ist aber eine schwere Geburt.
„Na, da hat mich einer der Ganoven hinterrücks...., also, solch ein Schmalspurganove, meine Dienstpistole entwendet.“
"Entwendet, so, so!"
Schlimm, schlimm das erzählen zu müssen. Der Kriminaler hätte trotzdem etwas verständnisvoller sein können. Oder? Ach, was soll's, er an seiner Stelle hätte mit Bestimmtheit nicht anders reagiert. Nein, den Hohn verdiente er durch und durch.
„Warum aber hast Du nicht alles der zuständigen Stelle gemeldet?“
„Die Familie...“ Was glaubt denn der Kriminaler überhaupt, Mensch. So einfach ist die Sache auch wieder nicht gewesen!
Der Polizisten-Neffe sitzt da mit dem Gefühl, auf keinerlei Verständnis zu stoßen. Sein Gefühl trügt ihn nicht. Er muss weiterreden, zumal sich die Augenbrauen des Vis-á-vis nervös auf- und abheben.
Ernst schaute hier nicht verschämt in die Ecke, er war in seinem Element, wie ein Politiker, der voll im Rampenlicht der Gesellschaft steht. Unverwandt blickte er den Kriminaler ganz auf Augenhöhe an.
Dieser ist zunächst von Ernst geblendet. Von dem, was jener sehr gut konnte im ersten Augenblick einer Erstbegegnung, sonor zu klingen, solide zu erscheinen und strait aufzutreten, als ein Macher, Einer-der-die-Dinge-anpackt, ein Strippenzieher, dem nichts entgeht. Voll kompetent! Mochten die Tabletten ihren Anteil haben, dass sie ihn so aufrecht erscheinen, aufbauen und geradezu stählern erscheinen ließen.
Nur etwas Merkwürdiges, Irritierenden trübte sein forsches Auftreten. Die Augen.
Diese fielen wegen der dichten, buschigen, ungepflegten Brauen deshalb nicht sofort auf, weil Ernst ein blonder Typ war und die Haare weiß, wenn nicht schon grau. Allmählich wirkt es aber irritierend, wird einem der Blick in die Augen des Gegenüber verwehrt. Unsicherheit macht sich breit; ein Verdacht macht sich Platz: der andere verberge etwas.
Und beim Kriminaler wirkt sich Irritation durch Hektik aus, so dass er einen taktischen Fehler macht, indem er sofort mit seinem Verhör beginnt, anstatt erst einmal die Dinge langsam und Schritt für Schritt anzugehen.
„Wie kommen eigentlich die Verbrecher in den Unfallwagen? Sie haben ihn doch gefahren. Stecken Sie mit Ihnen unter einer Decke? War am Strandparkplatz die Übergabestelle gewesen, wo sie das Fahrzeug den Fliehenden zur Verfügung gestellt haben? Sie haben mit diesen kooperiert, oder warum befanden sie sich im Transporter, als der Unfall geschehen ist?“
Ein plausibler Zusammenhang. Aber total daneben. Ernst konnte dem Polizisten nicht erzählen, was wirklich hinter all dem steckte: dass er den Helden spielen wollte und gescheitert war - sonst wäre seine politische Karriere frühzeitig, noch vor seinem Einzug in Berlin, gestoppt. Übrigens hatte Ernst noch nicht die Zeitung gelesen heute.
„Wenn ich nur erst in Berlin wäre...“, murmelte er dabei. Sein Gegenüber schaut auf.
Was hatte der da gesagt und was hatte es zu bedeuten: wenn er erst in Berlin war?
Zufällig liegt die örtliche Presse aufgeschlagen auf dem Tisch: Ernst, ein Held; seine Partei konnte auf einen solch couragierten, jungen Mann stolz sein: Berlin wartet auf Dich, Ernst!
Aha, jetzt, wo er in aller Munde als Held dastand, würde er nach Berlin kommen... und?
Das bestätigte hinwiederum des Kriminaler Vermutung der Entführung als familiäre Verschwörung!
„Was würde dann sein, wenn Sie erst in Berlin sind?“
Ernst zögert, vermutet eine Falle und schweigt.
Killerinstinkt! Politikerroutine: sagen, ohne etwas auszusagen. Aber das heißt nicht nichts zu sagen!
Leichter gesagt als getan.
'Mensch, was sag ich jetzt?'
Er überlegte krampfhaft, wie aus dieser Sackgasse herauskommen. Banales, Plausibles, etwas Halbwahres zu bemerken, vermochte er gerade jetzt nicht, wo es so notwendig war. Aber das war's doch, was Politiker so sehr konnten.
Er merkte, dies hier war seine Taufprobe, Feuerprobe als Politiker, jetzt und hier nahm seine Berliner Karriere den Anfang oder das Ende.
Inzwischen rotierte der Polizistenschädel.
Mensch, von woher wehte der Wind?
Dem Kriminaler war gesteckt worden, Ernst sei das schwarze Schaf der Familie und jahrelang arbeitslos gewesen und mit einem Schmunzeln hatte der Informant noch angedeutet, er wäre bei der Firma des Freundes seines Bruders als Mädchen-für-Alles untergekommen, sonst stünde er heute noch auf der Straße. Die Familie empfände Ernst insgesamt schlicht als Klotz am Bein.
Ging man von einem abgekartetem Spiel aus, Bruder und Polizistenneffe wussten Bescheid, dann war alles inszeniert, um Ernst in die Schlagzeilen zu bringen und ihn somit nach Berlin zu katapultieren. Der Bruder der Lockvogel, der Polizistenneffe der Steigbügelhalter und Ernst der Held. Klang logisch.
Aber das war auch wieder irritierend.
Betrachtet man nur mal die Entführer.
Was, wenn die Entführer nicht eingeweiht gewesen waren?
Wenn es sich um einen Zufall handelte, dass die Ganoven am Abend, während sich Arzt und Krankenschwester im Cabrio liebten, vorbeikamen und sie filmten? Und daraus dann die Erpressung sich ergab?
Nein, das war zu unwahrscheinlich.
Dann waren vielleicht alle eingeweiht? Entführer, Krankenschwester, Arzt, Polizist und Ernst – zum Zweck? Um Ernst einen Aufwind für seine politische Karriere und berlinerische Kandidatur zu vermitteln? Dafür sprach auch, dass nur sie involviert waren und die Polizei außen vorgelassen worden ist; sie waren unter sich und konnten es so hinstellen, dass alles so aussah, als ob die zwei jetzt toten Drogenabhängigen zur Entführung verleitet worden sind.
Der Polizist rümpfte die Nase.
Da blieb nur die Krankenschwester übrig. Sie konnte doch keinen Vorteil aus dem Komplott ziehen. Ihr konnte es außerdem egal sein, ob Ernst nach Berlin verschwand oder weiterhin so herumwurschtelte wie bisher.
„Schaun ma mal, was sie zu sagen hat!“
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Der ultimative Heimatkrimi - Roman von Verbrechern wider Willen
17. Lieber sich rächen als nur anklagen...
l Es fing schon damit an, dass sich die Besucherin ins Bürozimmer mit den Schuhen schlurfend hereinschleppte, als wären ihr die Beine zu schwer und gebeugten Rückens, als müsse sie zwei Zentner Säcke tragen.
Tatenlos stand sie da. Völlig verloren. Als wüßte sie nicht, was sie hier zu suchen hätte.
Geistesgegenwärtig erhob sich der Kriminaler schnell vom seinem Stuhl und trat hinter sie, um ihr den Mantel abzunehmen und auf den Garderobenständer zu hängen, der sich in einer Ecke hinter der Tür befand. Er bat sie Platz zu nehmen und angesichts ihrer Starre und Abgehacktheit, die ihre Bewegungen kennzeichneten, rückte er ihr auffordernd noch den Stuhl zurecht, auf dem sie sich niederlassen sollte.
So via-à-vis ihr gegenüber sitzend, erblickte er ein jämmerliches Häufchen Elend.
Ein paar rote Kratzer an der rechten Stirnseite mögen wohl vom Autounfall herrühren. Aber die Hände, die gefesselt waren, sind an den Pulsadern fleischig rosa-rot aufgeschürft. Die Haare stehen ihr koronaartig ab, sie wirkt verwirrt, ihre Hände nesteln hier und dort herum. Violette Krähenfüße leuchten unter ihren Augen und über einer stark gerunzelten Stirn. Zudem scheint sie sich gehen zu lassen, ihr hängen die Kleider recht lose am Körper, ein Knopf an der Bluse ist abgetrennt und ein leicht scharfer Körpergeruch geht von ihr aus.
In einem abrupten Ruck verschränkt sie ihre Finger zu einer einzigen Hand wie zum Gebet und legt die Hände auf den Tisch, als wären sie ihr zu schwer.
Sie ist diejenige Person von den Beteiligten, die am stärksten von der Entführung mitgenommen worden ist. Das sprach für seine Theorie der Familienverschwörung, denn die eigentlich Betroffenen, nämlich diese Familienmitglieder, Arzt, Polizist und Bruder, zeigten kaum, daß die Entführung an ihnen genagt hätte. Nein, wirklich, daß denen dies alles wirklich bis ins Mark und Bein hinein getroffen hätte, wirkten die nicht.
Aber bei dieser Frau schon. Sie ist die Leidtragende der ganzen Entführung.
Er fragt zuerst, ob sie einen Kaffee wolle, um zu vermeiden, mit der Tür ins Haus zu fallen. Das gibt den Beteiligten die Distanz, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, während der Kriminaler alle Utensilien für den Kaffee anwendet.
Nach dem ersten Schluck gewinnt der Kriminaler jedoch den Eindruck, daß er jetzt unbedingt zur Sache kommen müsse, sonst würde das Hinauszögern das hervorrufen, was er gerade vermeiden wollte.
„Ich komme jetzt nicht umhin, ihnen einige Fragen zur Entführung zu stellen.“ Vorsichtiger geht's kaum.
Sie reagiert nicht. Als ob sie eine Mauer umgeben würde. Ist diese Frage überhaupt bis zu ihr vorgedrungen? Ihre Finger umklammern krampfhaft den Tassenhenkel und sind schweißnass. Ihr Kopf wankt leicht. Gleichgewichtsstörung? Oder von den Tabletten her, Beruhigungs- oder Schmerzmitteln.
„Ich kann ja verstehen, daß sie bestimmt noch nicht vollständig in der Verfassung sind, auf meine Fragen zu antworten, nachdem, was sie durchgemacht haben, aber leider muß ich, um die Ermittlungen fortzusetzen, sie verstehen schon...“ Aber er wußte fast überhaupt nichts, geschweige denn, in welche Richtung seine Fragen gehen sollten.
Er wird von einer schüchternen Stimme unterbrochen, die ihn piepsend leise nach dem Stand fragt.
„Wir tappen noch ziemlich im Dunkeln, muß ich gestehen.“
Was nur genau sagen?
Er wiederholt sich sogar: "Ja, wir tappen ziemlich im Dunklen, muß ich gestehen."
Soll er noch die Vermutung einer Verschwörung andeuten?
"Einiges weist aber darauf hin, dass es eine geplante Tat, ein ausgeheckter Komplott gewesen war."
Zweifel bleiben zurück, ob dies richtig gewesen ist, zu sagen. Zu spät. Immerhin war es gut gewesen, das er keine Namen und Personen, zum Beispiel den Arzt, den Verkehrspolizist genannt hatte.
Die Krankenschwester schaut starr aus dem Fenster. Als ob sie nicht anwesend wäre. Man konnte aus dem Blick kaum etwas herauslesen, nicht, ob sie nachdachte, ob etwas hängenblieb und was überhaupt in ihr vorging. Man las nur an ihrem Gesicht ab, daß sie angestrengt nachdachte, zumal ihre Augen nur aus schmalen Lidern blickten. Es wirkte, als versuchte sie, angestrengt zu begreifen, was geschehen war.
Nachdenken tat sie in der Tat: 'Kann ich mich rächen?' - darum drehten sich diese ihr Gedanken. Nur darum.
Es fällt schließlich ihr Blick auf ihren Gegenüber.
„Ja!“, sagt sie. „Dies könnte durchaus ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Dieser, dieser Ernst hat sich so merkwürdig benommen.“
Der Polizist lehnt sich nach vorne.
„Wie?“
Zunächst kommt nichts. Er muß sie noch einmal anstoßen, indem er aufmunternd mit dem Kopf nickt, will heißen: wie, sagen Sie schon!
„Als wäre er ein Held, ein Erlöser, Lebensretter, wenn Sie wissen, was ich sagen möchte."
Etwas verzögert, obwohl's ihm längst auf der Zunge lag, antwortet er: „Aber das könne unter den gegebenen Umständen durchaus normal gewesen sein.“
Diesmal von ihr verzögert, kommt die langsam ausgesprochene Antwort, die aber sehr bestimmt klingt: „Nein wirklich nicht. Der ist nicht ganz normal! Größenwahnsinnig, wenn sie wissen, wie ich das meine...“
Sie hat dies gesagt, obwohl sie sich nach dem Unfall um Ernst krankenpflegerisch gekümmert hat, der durch Aufprall auf Blech, Kanten und Ecken von starken Schürfwunden schwer angeschlagen und gezeichnet gewesen war. Man kann durchaus sagen, sie haben sich danach auch sehr gut verstanden und es ist sogar so etwas, wie eine kleine Verbundenheit entstanden. Er hat nach dem Unfall aus dem Krankenhausbett heraus ein paar Mal nach ihr gefragt und sie ist gekommen. Warum sie es getan hat, weiß sie eigentlich gar nicht. Bestimmt wieder ihr Helfersyndrom. Denn schlecht ging es ihr ja auch.
Trotzdem, egal wie, er gehört zu dieser Familie des Mannes, der ihr so übel mitgespielt hatte, zu diesem Chefarzt, der sich gleichgültig, gefühllos und indolent verhalten hat gegenüber den bestialischen Vergewaltigern, den Entführern und Erpressern, denen sie so dermaßen hilflos ausgeliefert gewesen war, daß es ihr im Nachhinein noch die Sprache verschlägt.
Und für all das mußte der Arzt büßen – und traf es seinen Bruder, diesen Ernst, dann traf es auch ihn. Also war es richtig.
Der Polizist lehnt sich zurück.
Er denkt, das passt gut zu meiner Variante: alles geplant.
Und dieser Ernst, den er zwar erst einmal gesehen hat, wirkte trotz seiner Mitgenommenseins ziemlich happy und geradezu euphorisiert, vielleicht, weil ihr ausgeheckter Plan geklappt hatte, auch wenn alles ziemlich aus dem Ruder gelaufen ist. Aber er würde trotzdem bald nach Berlin kommen, dass war's doch, was ihn umtrieb, eine politische Karriere in Berlin.
Hm?
Es klingelt.
„Entschuldigen Sie!“
Während er spricht, blickt er direkt in die Augen der Krankenschwester, die diesem Blick begegnet. Wahrscheinlich geht es um sie, sie glaubt zu wissen, worüber die Telefonierer sprechen. Sie ist empört, sehr, sehr empört jetzt. Der Kriminaler schaut jetzt auch ein paarmal recht scheu in die ein oder andere Ecke, was ihre Vermutung bestärkt. Ihre Wut, ihr Haß, ihr Rachedurst wächst.
Der Kriminaler legt auf, die Krankenschwester sagt: „Ich glaube zu wissen, worüber Sie gesprochen haben.“
Er schaut sie einen Moment fragend an, antwortet jedoch nicht. Nun hat sie Sicherheit.
„Liege ich richtig?“
„Wie meinen?“
Noch verärgerter ist sie, daß der Kriminaler, obwohl er genau weiß, was sie andeutet, so tut und spielt Mein-Name-ist-Hase-ich-weiß-von-nichts.
„Sie haben sich über ein Video unterhalten.“
Zögerlich stimmt er zu. Es ist ihm hochnotpeinlich einerseits, andererseits weiß er an dieser Stelle noch nicht, wie er dies einschätzen soll, daß er dieses sein Wissen der Krankenschwester gegenüber so freimütig einräumt.
„Ja, leider!“
„Ich verstehe!“
Damit ist es sicher. Sie barst vor Ärger und Wut. Die Finger ihrer Hand pressen sich in das Fleisch der Handinnenfläche und ihre Handknochen sind leichenblaß. "Ich muss mich rächen, rächen..."
Tatenlos stand sie da. Völlig verloren. Als wüßte sie nicht, was sie hier zu suchen hätte.
Geistesgegenwärtig erhob sich der Kriminaler schnell vom seinem Stuhl und trat hinter sie, um ihr den Mantel abzunehmen und auf den Garderobenständer zu hängen, der sich in einer Ecke hinter der Tür befand. Er bat sie Platz zu nehmen und angesichts ihrer Starre und Abgehacktheit, die ihre Bewegungen kennzeichneten, rückte er ihr auffordernd noch den Stuhl zurecht, auf dem sie sich niederlassen sollte.
So via-à-vis ihr gegenüber sitzend, erblickte er ein jämmerliches Häufchen Elend.
Ein paar rote Kratzer an der rechten Stirnseite mögen wohl vom Autounfall herrühren. Aber die Hände, die gefesselt waren, sind an den Pulsadern fleischig rosa-rot aufgeschürft. Die Haare stehen ihr koronaartig ab, sie wirkt verwirrt, ihre Hände nesteln hier und dort herum. Violette Krähenfüße leuchten unter ihren Augen und über einer stark gerunzelten Stirn. Zudem scheint sie sich gehen zu lassen, ihr hängen die Kleider recht lose am Körper, ein Knopf an der Bluse ist abgetrennt und ein leicht scharfer Körpergeruch geht von ihr aus.
In einem abrupten Ruck verschränkt sie ihre Finger zu einer einzigen Hand wie zum Gebet und legt die Hände auf den Tisch, als wären sie ihr zu schwer.
Sie ist diejenige Person von den Beteiligten, die am stärksten von der Entführung mitgenommen worden ist. Das sprach für seine Theorie der Familienverschwörung, denn die eigentlich Betroffenen, nämlich diese Familienmitglieder, Arzt, Polizist und Bruder, zeigten kaum, daß die Entführung an ihnen genagt hätte. Nein, wirklich, daß denen dies alles wirklich bis ins Mark und Bein hinein getroffen hätte, wirkten die nicht.
Aber bei dieser Frau schon. Sie ist die Leidtragende der ganzen Entführung.
Er fragt zuerst, ob sie einen Kaffee wolle, um zu vermeiden, mit der Tür ins Haus zu fallen. Das gibt den Beteiligten die Distanz, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, während der Kriminaler alle Utensilien für den Kaffee anwendet.
Nach dem ersten Schluck gewinnt der Kriminaler jedoch den Eindruck, daß er jetzt unbedingt zur Sache kommen müsse, sonst würde das Hinauszögern das hervorrufen, was er gerade vermeiden wollte.
„Ich komme jetzt nicht umhin, ihnen einige Fragen zur Entführung zu stellen.“ Vorsichtiger geht's kaum.
Sie reagiert nicht. Als ob sie eine Mauer umgeben würde. Ist diese Frage überhaupt bis zu ihr vorgedrungen? Ihre Finger umklammern krampfhaft den Tassenhenkel und sind schweißnass. Ihr Kopf wankt leicht. Gleichgewichtsstörung? Oder von den Tabletten her, Beruhigungs- oder Schmerzmitteln.
„Ich kann ja verstehen, daß sie bestimmt noch nicht vollständig in der Verfassung sind, auf meine Fragen zu antworten, nachdem, was sie durchgemacht haben, aber leider muß ich, um die Ermittlungen fortzusetzen, sie verstehen schon...“ Aber er wußte fast überhaupt nichts, geschweige denn, in welche Richtung seine Fragen gehen sollten.
Er wird von einer schüchternen Stimme unterbrochen, die ihn piepsend leise nach dem Stand fragt.
„Wir tappen noch ziemlich im Dunkeln, muß ich gestehen.“
Was nur genau sagen?
Er wiederholt sich sogar: "Ja, wir tappen ziemlich im Dunklen, muß ich gestehen."
Soll er noch die Vermutung einer Verschwörung andeuten?
"Einiges weist aber darauf hin, dass es eine geplante Tat, ein ausgeheckter Komplott gewesen war."
Zweifel bleiben zurück, ob dies richtig gewesen ist, zu sagen. Zu spät. Immerhin war es gut gewesen, das er keine Namen und Personen, zum Beispiel den Arzt, den Verkehrspolizist genannt hatte.
Die Krankenschwester schaut starr aus dem Fenster. Als ob sie nicht anwesend wäre. Man konnte aus dem Blick kaum etwas herauslesen, nicht, ob sie nachdachte, ob etwas hängenblieb und was überhaupt in ihr vorging. Man las nur an ihrem Gesicht ab, daß sie angestrengt nachdachte, zumal ihre Augen nur aus schmalen Lidern blickten. Es wirkte, als versuchte sie, angestrengt zu begreifen, was geschehen war.
Nachdenken tat sie in der Tat: 'Kann ich mich rächen?' - darum drehten sich diese ihr Gedanken. Nur darum.
Es fällt schließlich ihr Blick auf ihren Gegenüber.
„Ja!“, sagt sie. „Dies könnte durchaus ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Dieser, dieser Ernst hat sich so merkwürdig benommen.“
Der Polizist lehnt sich nach vorne.
„Wie?“
Zunächst kommt nichts. Er muß sie noch einmal anstoßen, indem er aufmunternd mit dem Kopf nickt, will heißen: wie, sagen Sie schon!
„Als wäre er ein Held, ein Erlöser, Lebensretter, wenn Sie wissen, was ich sagen möchte."
Etwas verzögert, obwohl's ihm längst auf der Zunge lag, antwortet er: „Aber das könne unter den gegebenen Umständen durchaus normal gewesen sein.“
Diesmal von ihr verzögert, kommt die langsam ausgesprochene Antwort, die aber sehr bestimmt klingt: „Nein wirklich nicht. Der ist nicht ganz normal! Größenwahnsinnig, wenn sie wissen, wie ich das meine...“
Sie hat dies gesagt, obwohl sie sich nach dem Unfall um Ernst krankenpflegerisch gekümmert hat, der durch Aufprall auf Blech, Kanten und Ecken von starken Schürfwunden schwer angeschlagen und gezeichnet gewesen war. Man kann durchaus sagen, sie haben sich danach auch sehr gut verstanden und es ist sogar so etwas, wie eine kleine Verbundenheit entstanden. Er hat nach dem Unfall aus dem Krankenhausbett heraus ein paar Mal nach ihr gefragt und sie ist gekommen. Warum sie es getan hat, weiß sie eigentlich gar nicht. Bestimmt wieder ihr Helfersyndrom. Denn schlecht ging es ihr ja auch.
Trotzdem, egal wie, er gehört zu dieser Familie des Mannes, der ihr so übel mitgespielt hatte, zu diesem Chefarzt, der sich gleichgültig, gefühllos und indolent verhalten hat gegenüber den bestialischen Vergewaltigern, den Entführern und Erpressern, denen sie so dermaßen hilflos ausgeliefert gewesen war, daß es ihr im Nachhinein noch die Sprache verschlägt.
Und für all das mußte der Arzt büßen – und traf es seinen Bruder, diesen Ernst, dann traf es auch ihn. Also war es richtig.
Der Polizist lehnt sich zurück.
Er denkt, das passt gut zu meiner Variante: alles geplant.
Und dieser Ernst, den er zwar erst einmal gesehen hat, wirkte trotz seiner Mitgenommenseins ziemlich happy und geradezu euphorisiert, vielleicht, weil ihr ausgeheckter Plan geklappt hatte, auch wenn alles ziemlich aus dem Ruder gelaufen ist. Aber er würde trotzdem bald nach Berlin kommen, dass war's doch, was ihn umtrieb, eine politische Karriere in Berlin.
Hm?
Es klingelt.
„Entschuldigen Sie!“
Während er spricht, blickt er direkt in die Augen der Krankenschwester, die diesem Blick begegnet. Wahrscheinlich geht es um sie, sie glaubt zu wissen, worüber die Telefonierer sprechen. Sie ist empört, sehr, sehr empört jetzt. Der Kriminaler schaut jetzt auch ein paarmal recht scheu in die ein oder andere Ecke, was ihre Vermutung bestärkt. Ihre Wut, ihr Haß, ihr Rachedurst wächst.
Der Kriminaler legt auf, die Krankenschwester sagt: „Ich glaube zu wissen, worüber Sie gesprochen haben.“
Er schaut sie einen Moment fragend an, antwortet jedoch nicht. Nun hat sie Sicherheit.
„Liege ich richtig?“
„Wie meinen?“
Noch verärgerter ist sie, daß der Kriminaler, obwohl er genau weiß, was sie andeutet, so tut und spielt Mein-Name-ist-Hase-ich-weiß-von-nichts.
„Sie haben sich über ein Video unterhalten.“
Zögerlich stimmt er zu. Es ist ihm hochnotpeinlich einerseits, andererseits weiß er an dieser Stelle noch nicht, wie er dies einschätzen soll, daß er dieses sein Wissen der Krankenschwester gegenüber so freimütig einräumt.
„Ja, leider!“
„Ich verstehe!“
Damit ist es sicher. Sie barst vor Ärger und Wut. Die Finger ihrer Hand pressen sich in das Fleisch der Handinnenfläche und ihre Handknochen sind leichenblaß. "Ich muss mich rächen, rächen..."
18. Der Besuch einer Freundin öffnet eine Schleuse
Daß es nicht bloß bei einer heftigen Reaktion vorübergehender Art blieb, dieses Rachegelüste, lag vielleicht auch an einem überraschenden Besuch einer befreundeten Krankenschwester und Kollegin bald darauf. Die Kunde des Überfalls, der Erpressung und des Unglücks hatte weite Kreise gezogen.
Darüber wollte die Bekanntin tratschen, aber nicht nur.
Sie hielt in der einen Hand ein Glas Sekt, in der andren einen Blumenstrauß. Überaus niedlich, erfreulich und beschwingend.
„Zu Deiner Wiederauferstehung!“
Hilde war gerührt und freute sich sehr über die Anteilnahme. Erfreut holte sie eine Vase, in der sie die Orchideen steckte. Während sie mit den Sektgläsern herumhandierte, kamen mildernde, wohltuende Worte des Mitleidens: „Diese Entführung. Wie Du dich wohl gefühlt haben mußtest! Scheußlich!“
„Ich kann Dir sagen, das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Schlimmer als jeder Sonntagabend-Krimi."
Die andere lachte: „Ja, die sind halb so schlimm wie die Wirklichkeit, denke ich mir, diese Fernsehkrimis.“
„Allerdings!“ Sie stellte die beiden langstieligen Gläser in die Mitte des kleinen Tisches, wo herum eine Zweipersonen-Coach und ein kleiner Sessel stand. Der Korken wurde entpropft und schäumende silberne Flüssigkeit strömte.
"Auf Dich Hilde! Und dass Du heil aus dem Schlamassel gekommen bist!"
"Danke, das war auch wirklich knapp gewesen, kann ich Dir versichern."
Sie stießen an und tranken.
Es dürfte nicht am Alkohol allein gelegen haben, dass die andere so schnell auf den Punkt kam.
„Du hattest also mit dem Arzt eine Beziehung, nicht? Er wurde auch entführt. Stimmt doch? Ich seid ja bei einem Techtelmechtel im Auto ertappt worden, nicht wahr?“ So wurde schnell der eigentliche Zweck des Besuchs offenkundig.
Hilde, wie meist, blieb sich treu, sie war einfach nicht gesprächig, brachte kaum den Mund auf, auch wenn die andere vor Neugier platzte. Diese redete in einem fort, nicht mit dem Gefühl, die Sprachlosigkeit der anderen drücke den Wunsch aus, nicht über dieses Thema sprechen zu wollen. Schließlich kannte sie Hilde nicht anders, als dass es deren Kennzeichen war, ruhig und zurückgezogen zu agieren. Aber gerade diese Eigenschaft wurde ihr nun von der anderen zum Vorwurf gemacht, da sie nicht bereit war, nur das geringste über das Verhältnis mit dem Arzt kundzutun. Sie berücksichtigte auch nicht, daß Hilde der Schock der Entführung noch in den Knochen steckte und sie sich so wie in einer Schockstarre befand, in der nur jedes Wort, das über die Lippen kam, eine schwere Bürde darstellte, erinnerte es sie doch an schlimmen Dinge.
„Dabei hast Du ja Bein und Stein geschworen, niemals mit einem Arzt in die Kiste zu steigen, wie Du Dich bestimmt noch gut erinnern wirst.“ Natürlich erinnerte sich Hilde sehr gut. Das sie ansonsten sehr wenig sprach, so war ihr damaliges Aus-sich-Herausgehen, um nicht zu sagen Ausbruch, ein wirklich einmaliges Ereignis, während ihrer Krankenschwestern-Ausbildung umso aufmerksamer und erregender aufgenommen worden. Ein Freundinnenplausch, wie sie viele Male stattfanden, nach einer Unterrichtsstunde, im Café, mit dem Thema, was würdest du tun, wenn du von einem Arzt auserwählt werden würdest, oder besser solch ein vorgestellter Arzt ein eindeutiges Auge auf dich werfen würde?
Hilde, impulsiv, hatte in lautem Tonfall geschworen: „Niemals! Niemals würde ich mit einem Arzt, na ihr wisst schon.“ Hier wurde Kichern um sie herum hörbar. Eine andere hatte sie unterstützt: „Hilde hat recht. Du weißt niemals, ob Dich ein Arzt als einen schnellen Happen und leckeren Schnäck betrachtet, wenn er Dich vögelt. Mehr nicht!“ Hilde wurde rot ob dieser Direktheit. Ihre Mitschwesternschülerinnen machten sich oft einen Witz daraus, ordinäre Ausdrücke in Anwesenheit von Hilde zu äußern, nur um deren Verlegenheit zu genießen.
Jetzt nickte Hilde einfach schamlos dazu und ergänzte: „Genau. Du weiß niemals, was im Kopf von so einem eingebildeten Affen vorgeht!“ Wieder waren alle erstaunt und diese Bemerkung wurde freudig mit Ohs und Ahs bedacht, kam diese doch gerade von dieser eisernen Jungfrau.
Aber was man nicht alles tut und sagt, wenn man jung, dumm und unerfahren war, dachte Hilde dazu. Und nun damit konfrontiert zu werden, ist sowieso nur noch blöd, oder nicht?
„Und wer ist es denn?“ Steckte dahinter verständliche Neugierde so auch Neid. Aber Hilde schwieg.
„Lass mich raten?“ Nun entfaltete sich eine bigotte Sumpfblume der Phantasie.
„Der Chefarzt?“ Schweigen.
Wahrscheinlich wußte die Tratschtante genau, um wen es sich handelte.
„Was ist der wieder? Gynäkologe, Urologe, Kardiologe.“ Lachen. Schweigen.
„Das wird schon einen Unterschied machen. Oder? Ich meine im Bett.“ Unterdrücktes Lachen. Schweigen.
„Ach komm, Hilde, sei nicht so. Spielverderberin. Ich will Dir auch eine Geschichte erzählen, die mir passiert ist mit einem Arzt. Ich sage aber nicht seinen Namen, das mußt Du verstehen.“
Als ob Hilde diesen interessiert hätte.
„Es war vor zwei Jahren, auf dem Betriebsausflug zur Feier des Klinikums, die 50. Der Arzt hat es mit mir im Bus getrieben, mit dem wir dorthin zur Veranstaltungshalle gefahren sind. Am breiten Rücksitz hinten. Also, es war kein Caprio, auch nicht so luxurös wie bei Dir natürlich. Eigentlich war es recht unkomfortabel, ich habe Tage danach wegen der ungemütlichen Lage Kreuzschmerzen gehabt.“
Hildes Augen weiten sich.
„Damit will ich beileibe nicht, damit Deine Tourtouren vergleichen.“ Hier kam sie immerhin ins Stocken. Ein gutes Zeichen, daß bei ihr noch nicht ganz Hopf und Malz hinsichtlich Anstand und soziale Feinfühligkeit verloren gegangen war. Trotzdem lachte sich kurz auf, in Gedanken an die Umständen, die zu diesen Kreuzschmerzen geführt haben mochten.
So sagte sie schnell und fuhr fort: „Aber was soll's. Es war herrlich, wirklich!“
Das war wieder ein Fettnäpfchen, in das sie trat. Und sie überschlug sich nun beim Reden.
„Als wir wieder zurückgekommen sind, war Schluß. Ich sag dir, der hat so getan, als kennte er mich nicht einmal. Ich hab natürlich gemerkt, der hat Angst, daß es jeder erfährt, die anderen Kollegen und wahrscheinlich vor allem seine ehrenwerte Gemahlin, ähm. Naja, aus dem Augen, aus dem Sinn. So ungefähr. So! Und jetzt, Hilde, jetzt kannst Du mir auch ein bißchen was erzählen. Nur ein klitzekleines bißchen.“ Aber Hilde war so, wie sie war. Außerdem in bedrückten Umständen.
Die Freundin wollte ihr auf die Sprünge helfen. „Jeder Arzt hat doch sein Spezialgebiet, meist Öffnungen des Körpers, denk an den Hals-, Nasen-, Ohrenarzt. Oder der Urologe.“ Dabei verbarg die Fragerin ihren Mund hinter Händen, die sich darauf legten, um die Scham zu verbergen. Ihre Phantasie ließ sie hier etliche Sekunden lang verweilen, angesichts ihres Drängens und Plapperns eine bemerkenswert lange Auszeit.
Hildes Augen weideten sich dagegen erneut ein stückweit. Sie murmelte: „Ich weiß gar nicht, was Du von mir hören willst!“
Die dumme Quasslerin merkte immer noch nicht, was sie mit ihrem Tun anrichtete und lächelte ihr breitestes Lachen: „Ach komm, Du weißt schon, Hilde, sag schon!“
Hilde war schwer erreg- und aufreizbar, galt auf jeder Station als der ruhende Pol, aber dies war zu viel. Sie stand auf, zog ihr Sweatshirt über den Kopf, drehte sich um und wandte der anderen den Rücken zu: „Siehst Du, was hier ist? Und das hat mir kein Arzt zugefügt, kann ich Dir flüstern!“
Zwei lange, schorfig rote Striemen überzogen den Rücken.
„Ah, ja!“ Die andere war einiges gewöhnt, aber doch schockiert.
„Und jetzt verlass mein Appartement! Aber auf der Stelle!“ Sie zog sich wieder an, während die Besucherin ihre sieben Sachen zusammenpackte und aus dem Zimmer stürzte.
Das Ganze war die Höhe! Sie ahnte, welche Lawine sie losgetreten hatte. Nach diesem Gespräch mit ihrer Kollegin war klar, daß ihr Ruf nicht nur ruiniert war, sondern man sich sogar über sie belustigte. Dass sie als Witzfigur galt. Trotz ihres Märtyriums.
So würde man über sie munkeln: „Gerade Hilde, die am lautesten geschrien hat, treibt es am ungeniertesten mit einem Arzt. Und das seit Monaten, wenn nicht Jahren.“ Wenn dies auch nur geschätzt und übertrieben war. „Da sieht man es mal wieder. Die am meisten schreien, sind am schlimmsten!“
In solchen Reden steckte nicht nur Häme, Erbostsein und Neid. Ihr Ruf war definitiv geschädigt.
Aber das war nur seine Schuld.
Zwar keineswegs Hoffnungen genährt, anfangs beileibe nicht verführt, nicht lange gebaggert, bis er bei ihr landete oder so, weil sie ein zäher Brocken gewesen wäre. Nein, keine Schmeicheleien, Bitten, Geschenke, Blicke, Einflüsterungen, Ermunterungen erfolgten, kein Jagdinstinkt des Jägers im Mann trieb ihn um, um sie, das scheue Rehe des Waldes, zu erlegen.
Es war ganz anders.
Wer Tag für Tag mit dem Tod konfrontiert wird, sieht das Leben mit anderen Augen. Prinzipien, Schwüre und gute Vorsätze bleiben da schnell auf der Strecke, in einem Job, bei dem man tagtäglich Menschen sterben sieht, von einer Minute auf der anderen, die in den Tagen und Wochen vorher so liebenswert gewesen waren und trotz Schmerzen als Stern voll Gutmütigkeit und Lebensfreude gestrahlt hatten. Da stand man davor, sie, die Krankenschwester und er, der Arzt, die einträchtig sich so um ihn bemüht hatten und wußten nicht weiter. Man sah sich in die Augen und dachte, das Leben ist viel zu kurz, um etwas zu versäumen und fiel sich in die Arme. Und begann sich zu streicheln. Und...
Und sie hatte dann dieses Wolkenkuckucksheim an Wünschen, Hoffnungen aufgebaut. Seine Frau werden zu können! Wo sie nicht die geringste Chance hatte. Dies hatte er ihr schließlich im Keller schamlos ins Gesicht geschleudert. Und zudem sein Verhalten deutlich genug bewiesen, wie viel sie ihm wert war, nämlich null und nichts. Absolut nichts. Die Vergewaltiger hatten mit ihr tun können, was sie wollten, während er gleichgültig wegschaute, einzig bemüht, mit ungekrümmtem Haar aus der Affäre zu kommen. Zum Wohle seiner Familie. Und zu dem seinigen selbst. Sein Hemd war ihm am nächsten.
Oh, sie saublöde Gans, sie.
Sie fiel wirklich in ein tiefes Loch, in dem sich literweise Tränen ansammelte, um sie zu ertränken, wenn sie es zuließ. Solch ein Hasenfuß war sie aber nicht!
Würde es ruchbar werden, wenn sie ihren Feldzug startete: der Chefarzt hatte eine Affäre mit einer untergeordneten Krankenschwester und diese hatte sich eingebildet, von ihm geehelicht zu werden? Nicht nur mit einem Arzt fremdzugehen, obwohl sie dies vehement ausgeschlossen hatte, sondern auch noch von ihm geheiratet werden zu wollen – kann man noch blöder sein? Okay, aber er selbst würde es kaum darazf ankommen lassen, daß solche Einzelheiten ihrer Beziehung, selbst gerade sie herabwürdigende und diskreditierende, publik werden würden, vielmehr alles daran setzen, daß überhaupt so wenig wie möglich an die Oberfläche drang.
So verneinte sie, daß ihr Feldzug zur Verunglimpfung des Ansehens des Arztes, sich gegen sie selbst würde wenden, weil nicht damit zu rechnen war, daß der Arzt quatschen würde und war fest entschlossen, über eine Leiche zu gehen, über ihn – sofern es dazu eines Entschluß bedurft hätte, nicht sich einfach gehen zu lassen, nämlich dem Rachegelüste sich hinzugeben, und zwar hemmungslos.
Sie würde sich rächen, rächen. Ja, das würde sie. In ihr steckte unbekanntes Potential, sie erschien zwar wie ein stilles, graues Mäuschen, ja, aber, wenn es darauf ankam, war sie ein Tiger und wenn sie verletzt wurde, eine Schar reißender Wölfe!
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Darüber wollte die Bekanntin tratschen, aber nicht nur.
Sie hielt in der einen Hand ein Glas Sekt, in der andren einen Blumenstrauß. Überaus niedlich, erfreulich und beschwingend.
„Zu Deiner Wiederauferstehung!“
Hilde war gerührt und freute sich sehr über die Anteilnahme. Erfreut holte sie eine Vase, in der sie die Orchideen steckte. Während sie mit den Sektgläsern herumhandierte, kamen mildernde, wohltuende Worte des Mitleidens: „Diese Entführung. Wie Du dich wohl gefühlt haben mußtest! Scheußlich!“
„Ich kann Dir sagen, das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Schlimmer als jeder Sonntagabend-Krimi."
Die andere lachte: „Ja, die sind halb so schlimm wie die Wirklichkeit, denke ich mir, diese Fernsehkrimis.“
„Allerdings!“ Sie stellte die beiden langstieligen Gläser in die Mitte des kleinen Tisches, wo herum eine Zweipersonen-Coach und ein kleiner Sessel stand. Der Korken wurde entpropft und schäumende silberne Flüssigkeit strömte.
"Auf Dich Hilde! Und dass Du heil aus dem Schlamassel gekommen bist!"
"Danke, das war auch wirklich knapp gewesen, kann ich Dir versichern."
Sie stießen an und tranken.
Es dürfte nicht am Alkohol allein gelegen haben, dass die andere so schnell auf den Punkt kam.
„Du hattest also mit dem Arzt eine Beziehung, nicht? Er wurde auch entführt. Stimmt doch? Ich seid ja bei einem Techtelmechtel im Auto ertappt worden, nicht wahr?“ So wurde schnell der eigentliche Zweck des Besuchs offenkundig.
Hilde, wie meist, blieb sich treu, sie war einfach nicht gesprächig, brachte kaum den Mund auf, auch wenn die andere vor Neugier platzte. Diese redete in einem fort, nicht mit dem Gefühl, die Sprachlosigkeit der anderen drücke den Wunsch aus, nicht über dieses Thema sprechen zu wollen. Schließlich kannte sie Hilde nicht anders, als dass es deren Kennzeichen war, ruhig und zurückgezogen zu agieren. Aber gerade diese Eigenschaft wurde ihr nun von der anderen zum Vorwurf gemacht, da sie nicht bereit war, nur das geringste über das Verhältnis mit dem Arzt kundzutun. Sie berücksichtigte auch nicht, daß Hilde der Schock der Entführung noch in den Knochen steckte und sie sich so wie in einer Schockstarre befand, in der nur jedes Wort, das über die Lippen kam, eine schwere Bürde darstellte, erinnerte es sie doch an schlimmen Dinge.
„Dabei hast Du ja Bein und Stein geschworen, niemals mit einem Arzt in die Kiste zu steigen, wie Du Dich bestimmt noch gut erinnern wirst.“ Natürlich erinnerte sich Hilde sehr gut. Das sie ansonsten sehr wenig sprach, so war ihr damaliges Aus-sich-Herausgehen, um nicht zu sagen Ausbruch, ein wirklich einmaliges Ereignis, während ihrer Krankenschwestern-Ausbildung umso aufmerksamer und erregender aufgenommen worden. Ein Freundinnenplausch, wie sie viele Male stattfanden, nach einer Unterrichtsstunde, im Café, mit dem Thema, was würdest du tun, wenn du von einem Arzt auserwählt werden würdest, oder besser solch ein vorgestellter Arzt ein eindeutiges Auge auf dich werfen würde?
Hilde, impulsiv, hatte in lautem Tonfall geschworen: „Niemals! Niemals würde ich mit einem Arzt, na ihr wisst schon.“ Hier wurde Kichern um sie herum hörbar. Eine andere hatte sie unterstützt: „Hilde hat recht. Du weißt niemals, ob Dich ein Arzt als einen schnellen Happen und leckeren Schnäck betrachtet, wenn er Dich vögelt. Mehr nicht!“ Hilde wurde rot ob dieser Direktheit. Ihre Mitschwesternschülerinnen machten sich oft einen Witz daraus, ordinäre Ausdrücke in Anwesenheit von Hilde zu äußern, nur um deren Verlegenheit zu genießen.
Jetzt nickte Hilde einfach schamlos dazu und ergänzte: „Genau. Du weiß niemals, was im Kopf von so einem eingebildeten Affen vorgeht!“ Wieder waren alle erstaunt und diese Bemerkung wurde freudig mit Ohs und Ahs bedacht, kam diese doch gerade von dieser eisernen Jungfrau.
Aber was man nicht alles tut und sagt, wenn man jung, dumm und unerfahren war, dachte Hilde dazu. Und nun damit konfrontiert zu werden, ist sowieso nur noch blöd, oder nicht?
„Und wer ist es denn?“ Steckte dahinter verständliche Neugierde so auch Neid. Aber Hilde schwieg.
„Lass mich raten?“ Nun entfaltete sich eine bigotte Sumpfblume der Phantasie.
„Der Chefarzt?“ Schweigen.
Wahrscheinlich wußte die Tratschtante genau, um wen es sich handelte.
„Was ist der wieder? Gynäkologe, Urologe, Kardiologe.“ Lachen. Schweigen.
„Das wird schon einen Unterschied machen. Oder? Ich meine im Bett.“ Unterdrücktes Lachen. Schweigen.
„Ach komm, Hilde, sei nicht so. Spielverderberin. Ich will Dir auch eine Geschichte erzählen, die mir passiert ist mit einem Arzt. Ich sage aber nicht seinen Namen, das mußt Du verstehen.“
Als ob Hilde diesen interessiert hätte.
„Es war vor zwei Jahren, auf dem Betriebsausflug zur Feier des Klinikums, die 50. Der Arzt hat es mit mir im Bus getrieben, mit dem wir dorthin zur Veranstaltungshalle gefahren sind. Am breiten Rücksitz hinten. Also, es war kein Caprio, auch nicht so luxurös wie bei Dir natürlich. Eigentlich war es recht unkomfortabel, ich habe Tage danach wegen der ungemütlichen Lage Kreuzschmerzen gehabt.“
Hildes Augen weiten sich.
„Damit will ich beileibe nicht, damit Deine Tourtouren vergleichen.“ Hier kam sie immerhin ins Stocken. Ein gutes Zeichen, daß bei ihr noch nicht ganz Hopf und Malz hinsichtlich Anstand und soziale Feinfühligkeit verloren gegangen war. Trotzdem lachte sich kurz auf, in Gedanken an die Umständen, die zu diesen Kreuzschmerzen geführt haben mochten.
So sagte sie schnell und fuhr fort: „Aber was soll's. Es war herrlich, wirklich!“
Das war wieder ein Fettnäpfchen, in das sie trat. Und sie überschlug sich nun beim Reden.
„Als wir wieder zurückgekommen sind, war Schluß. Ich sag dir, der hat so getan, als kennte er mich nicht einmal. Ich hab natürlich gemerkt, der hat Angst, daß es jeder erfährt, die anderen Kollegen und wahrscheinlich vor allem seine ehrenwerte Gemahlin, ähm. Naja, aus dem Augen, aus dem Sinn. So ungefähr. So! Und jetzt, Hilde, jetzt kannst Du mir auch ein bißchen was erzählen. Nur ein klitzekleines bißchen.“ Aber Hilde war so, wie sie war. Außerdem in bedrückten Umständen.
Die Freundin wollte ihr auf die Sprünge helfen. „Jeder Arzt hat doch sein Spezialgebiet, meist Öffnungen des Körpers, denk an den Hals-, Nasen-, Ohrenarzt. Oder der Urologe.“ Dabei verbarg die Fragerin ihren Mund hinter Händen, die sich darauf legten, um die Scham zu verbergen. Ihre Phantasie ließ sie hier etliche Sekunden lang verweilen, angesichts ihres Drängens und Plapperns eine bemerkenswert lange Auszeit.
Hildes Augen weideten sich dagegen erneut ein stückweit. Sie murmelte: „Ich weiß gar nicht, was Du von mir hören willst!“
Die dumme Quasslerin merkte immer noch nicht, was sie mit ihrem Tun anrichtete und lächelte ihr breitestes Lachen: „Ach komm, Du weißt schon, Hilde, sag schon!“
Hilde war schwer erreg- und aufreizbar, galt auf jeder Station als der ruhende Pol, aber dies war zu viel. Sie stand auf, zog ihr Sweatshirt über den Kopf, drehte sich um und wandte der anderen den Rücken zu: „Siehst Du, was hier ist? Und das hat mir kein Arzt zugefügt, kann ich Dir flüstern!“
Zwei lange, schorfig rote Striemen überzogen den Rücken.
„Ah, ja!“ Die andere war einiges gewöhnt, aber doch schockiert.
„Und jetzt verlass mein Appartement! Aber auf der Stelle!“ Sie zog sich wieder an, während die Besucherin ihre sieben Sachen zusammenpackte und aus dem Zimmer stürzte.
Das Ganze war die Höhe! Sie ahnte, welche Lawine sie losgetreten hatte. Nach diesem Gespräch mit ihrer Kollegin war klar, daß ihr Ruf nicht nur ruiniert war, sondern man sich sogar über sie belustigte. Dass sie als Witzfigur galt. Trotz ihres Märtyriums.
So würde man über sie munkeln: „Gerade Hilde, die am lautesten geschrien hat, treibt es am ungeniertesten mit einem Arzt. Und das seit Monaten, wenn nicht Jahren.“ Wenn dies auch nur geschätzt und übertrieben war. „Da sieht man es mal wieder. Die am meisten schreien, sind am schlimmsten!“
In solchen Reden steckte nicht nur Häme, Erbostsein und Neid. Ihr Ruf war definitiv geschädigt.
Aber das war nur seine Schuld.
Zwar keineswegs Hoffnungen genährt, anfangs beileibe nicht verführt, nicht lange gebaggert, bis er bei ihr landete oder so, weil sie ein zäher Brocken gewesen wäre. Nein, keine Schmeicheleien, Bitten, Geschenke, Blicke, Einflüsterungen, Ermunterungen erfolgten, kein Jagdinstinkt des Jägers im Mann trieb ihn um, um sie, das scheue Rehe des Waldes, zu erlegen.
Es war ganz anders.
Wer Tag für Tag mit dem Tod konfrontiert wird, sieht das Leben mit anderen Augen. Prinzipien, Schwüre und gute Vorsätze bleiben da schnell auf der Strecke, in einem Job, bei dem man tagtäglich Menschen sterben sieht, von einer Minute auf der anderen, die in den Tagen und Wochen vorher so liebenswert gewesen waren und trotz Schmerzen als Stern voll Gutmütigkeit und Lebensfreude gestrahlt hatten. Da stand man davor, sie, die Krankenschwester und er, der Arzt, die einträchtig sich so um ihn bemüht hatten und wußten nicht weiter. Man sah sich in die Augen und dachte, das Leben ist viel zu kurz, um etwas zu versäumen und fiel sich in die Arme. Und begann sich zu streicheln. Und...
Und sie hatte dann dieses Wolkenkuckucksheim an Wünschen, Hoffnungen aufgebaut. Seine Frau werden zu können! Wo sie nicht die geringste Chance hatte. Dies hatte er ihr schließlich im Keller schamlos ins Gesicht geschleudert. Und zudem sein Verhalten deutlich genug bewiesen, wie viel sie ihm wert war, nämlich null und nichts. Absolut nichts. Die Vergewaltiger hatten mit ihr tun können, was sie wollten, während er gleichgültig wegschaute, einzig bemüht, mit ungekrümmtem Haar aus der Affäre zu kommen. Zum Wohle seiner Familie. Und zu dem seinigen selbst. Sein Hemd war ihm am nächsten.
Oh, sie saublöde Gans, sie.
Sie fiel wirklich in ein tiefes Loch, in dem sich literweise Tränen ansammelte, um sie zu ertränken, wenn sie es zuließ. Solch ein Hasenfuß war sie aber nicht!
Würde es ruchbar werden, wenn sie ihren Feldzug startete: der Chefarzt hatte eine Affäre mit einer untergeordneten Krankenschwester und diese hatte sich eingebildet, von ihm geehelicht zu werden? Nicht nur mit einem Arzt fremdzugehen, obwohl sie dies vehement ausgeschlossen hatte, sondern auch noch von ihm geheiratet werden zu wollen – kann man noch blöder sein? Okay, aber er selbst würde es kaum darazf ankommen lassen, daß solche Einzelheiten ihrer Beziehung, selbst gerade sie herabwürdigende und diskreditierende, publik werden würden, vielmehr alles daran setzen, daß überhaupt so wenig wie möglich an die Oberfläche drang.
So verneinte sie, daß ihr Feldzug zur Verunglimpfung des Ansehens des Arztes, sich gegen sie selbst würde wenden, weil nicht damit zu rechnen war, daß der Arzt quatschen würde und war fest entschlossen, über eine Leiche zu gehen, über ihn – sofern es dazu eines Entschluß bedurft hätte, nicht sich einfach gehen zu lassen, nämlich dem Rachegelüste sich hinzugeben, und zwar hemmungslos.
Sie würde sich rächen, rächen. Ja, das würde sie. In ihr steckte unbekanntes Potential, sie erschien zwar wie ein stilles, graues Mäuschen, ja, aber, wenn es darauf ankam, war sie ein Tiger und wenn sie verletzt wurde, eine Schar reißender Wölfe!
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21. Der Schwache ist immer der Böse
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