Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Hieranonuemus
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Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon Hieranonuemus » 07.10.2002, 13:19

ANMERKUNG ZUR GUILLOTINE

Im Zimmer. klassisch die Möbel,
die Chaiselongue auf der er sich ablichten lässt,
Goethe, vom Pinselstrich des Malers.
vor einer Landschaft, der Rennaisance, des Humanismus...

hält Goethe einen Brief in der Hand.
Mutter, schrieb er, sieh zu, dass Du das Spielzeug
bekommst, für klein August.
Eine Guillotine war gemeint, im Taschenformat.

Der Schnitt durch Papier, durch den Hals einer Puppe.
Noch am Schreibtisch träumt der Meister
davon, und wie er die Köpfe der Puppen vermisst mit Zirkel und Stift.
Nur die Mutter träumt nicht. So hat Goethe

den Wunsch zu den Akten gelegt, und vielleicht doch
weiter geträumt. da auf dem Stuhl.
Amüsiert Goethe sich über den zephyrischen Klang eines Fallbeils
über dem wullstigen Schädel eines Thoren?

*

BUNKERPHOTO

Diktator 1945 der Titel, das Bild ein Prolog –
Knie angewinkelt,
am Stuhl, die Füsse hinter die Stuhlbeine geklemmt,
in einem grauen Raum...

schiebt er das Becken vor mit der Hand
im Reissverschluss,
der Kopf, wie unter Vitrinen die Augen, lauscht er
dem abgehackten Bellgesang

der Paladine, seiner...
die über seinem Kopf den Endsieg aushandeln
und träumt von Panzerspitzen,
dem Rumpf einer Focke Wulf, eines Kampfjets,

Umgehungsmanövern,
Sichelschnitt und von der Geborgenheit der Bunker,
zu der es Oben
eine letzte wagner´sche Etüde gibt.

*

ANHANG. ROBBESPIERRE

Still endlich, Robbespierre,
abgeführt von einer Rede bei Regen,
sein Kopf, wie im Brotkorb
das Brötchen, verspeist das Volk vorm
Schaffot mit hungrigen Augen.

Sie lauschen dem Retter. Da ist Barras
und verschmiert die Butter
unters Volk. Das Volk ist frei, endlich.
Tod dem Tyrannen. Er,

der befand wer für ihn ist... gegen ihn
ist der, ist das Volk, ist Barras.
Robbespierre sprach kein Wort, dann kam
die Galle hoch aus dem
Schnitt am Hals. Daneben stand Barras.

Das Volk ist frei. Gut dass er
weg ist sagt Barras. Still endlich sagt Barras
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gelbsucht
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon gelbsucht » 07.10.2002, 19:55

Hallo Hieranonuemus,

Goethe - Hilter - Robbespiere - seltsames Dreigestirn. Wie paßt der Erstgenannte in eine Gedichtetriologie mit dem Titel "Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms"?

Gerade das erste Gedicht finde ich sehr interessant ... zu spekulieren, was jemand auf einem Foto/Bild denken mag, was in einem Brief steht, den er in der Hand hält, ein Papier, das eigentlich nur das Schreiben und die Dichtung symbolisiert und dann steht etwas ganz banales drin.

Auch die anderen beiden Gedichte beinhalten interessante "Unterstellungen" und Interpretationen ... die von dir lyrisch prägnant in Szene gesetzt werden!

gelbe grüße
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon Hieranonuemus » 08.10.2002, 01:02

Hi Gelbsucht; und danke für Deinen Beitrag. Du stellst eine Frage, die ich auf das erste Gedicht bezogen schon öfter gehört habe. Das Bild auf dem unser aller Göttervater G. gezeigt wird, sich auf einer Chaiselongue räkelnd, kennt man ja aus alten Deutschbüchern; das ist sowas, das wie die Faust aufs Auge gepasst hat ins Gedicht. Und wenn Goethe den Brief betrachtet (auf dem Gemälde) als würde er in einen Spiegel sehen, dann sehe ich darin ein Symptom für G.´s Narzissmus. Selbstherrlichkeit, die sich zur Krönung der literarischen Entwicklung durch die Jahrhunderte hochstilisiert. Doch ich fange an zu schwallen. Der Inhalt des Briefs ist tatsächlich überliefert. Goethe hat seiner Mutter nach Frankfurt geschrieben, dass sie ihm eine Spielzeugguillotine schickt. Ich halte es für fragwürdig, dass dieses Spielzeug tatsächlich für den Sohn gedacht war. Wie auch immer hat mich der historische Brief geradezu zu einem Kommentar in Gedichtform angestachelt. In kurzer Folge haben sich dann die beiden anderen Gedichte angeschlossen. Das Thema unter dem Titel, sagen wir, geht so in die Richtung von Dialektik der Aufklärung. In der Dreifolge steht Goethe für den Schreibtischtäter.
Ich gebe auch gern zu, dass ich da - nebenbei - ein typisches Oberstufentrauma bewältige. Goehte, yeaccchh! Aber ich habe neulich eine Vertonung von der Zauberlehrling gehört, die mich mit G. versöhnt hat.
Es hat da noch ein De Sade Gedicht gegeben; doch habe ich das rausgeworfen.

Gruss [Anonuemus]
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon gelbsucht » 08.10.2002, 01:19

Hallo Anoymous!
Der Inhalt des Briefs ist tatsächlich überliefert. Goethe hat seiner Mutter nach Frankfurt geschrieben, dass sie ihm eine Spielzeugguillotine schickt.
Faszinierend! Das hätte ich nicht gedacht! Dann ist es also doch nicht ganz so spekulativ, wie ich es vermutet hatte.

Übrigens kann ich dein Goethe-Trauma sehr gut nachvollziehen. Ich habe auch bis vor einigen Wochen große Vorbehalte gegen den Autor gehabt ... und die Charakterisierung, die du andeutest, weist Ähnlichkeiten mit meinen eigenen Vorstellungen auf. Dennoch finde ich eine Aussage wie
In der Dreifolge steht Goethe für den Schreibtischtäter.
ziemlich problematisch. Meinst du eigentlich damit seine Beschäftigung am Weimarer Hof oder seine dichterische Tätigkeit? Würde mich interessieren, inwiefern Goethe hier Täter ist, was hinter deiner "These" steckt? Die einzige Tat, die im Gedicht benannt wird, bleibt ja relativ harmlos: Faszination an einem grausamenen Spielzeug. Vielleicht könnte man ihm "Entpolitisierung der Kunst" vorwerfen?

gelbe grüße
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon Hieranonuemus » 08.10.2002, 12:14

Morgen!

Interessant Deine Bemerkung, Goethe als entpolitisierter Künstler; das lag nicht unbedingt als Aussage auf der Linie, die ich beim Schreiben des Gedichts verfolgt habe. (Muss ich durch den Kopf gehen lassen) - Mit Schreibtischtäter meine ich einen Typus, so wie Goethe hier ein Typus wird; auf der einen Seite G. der aufgeklärte Universalgelehrte, dann G. der in Gedanken nach physiognomischen Merkmalen die Menschen aussucht, die geköpft werden. Er ist da - meine ich - vergleichbar mit diesen anderen Schreibtischtätern vom Wannsee (die die "Judenfrage" klären zu müssen glaubten). Noch eine Quelle zu dem Gedicht: Goethe beteiligte sich rege an den Physiognomischen Arbeiten Lavaters, hat - wenn ich mich nicht irre - sogar die Hälfte der physiognomischen Artikel in den "Fragmenten" geschrieben; er wünschte aber nicht, als Mitverfasser genannt zu werden. Das war ihm wohl doch zu heikel, sich öffentlich zu einer Theorie zu bekennen, die von Schädelform und Grösse auf den Charakter von Menschen schliesst.
Sein Treiben in Weimar ist in dem Gedicht nicht so wichtig; obwohl gerade diese seine Umtriebe Goethes Charakter kenntlich machen. Der Mann hat jede Konkurenz totgebissen (Lenz, Kleist), Intrigen gesponnen. Schiller übrigens auch. Aber das nur am Rande.

Gruss.
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon gelbsucht » 11.10.2002, 03:11

Wahnsinn!

Was so alles in dem Gedicht drin steckt. Ich muß sagen, ich finde es immer interessanter, woran deine Erklrärungen über biographische Hintergründe nicht ganz unschuldig sind. Goethe als Urvater einer biometrisch-rassistischen Theorie? Wer hätte das gedacht. Das ist natürlich wirklich provokativ! Und dann rechtfertigt es natürlich zu einem gewissen Maße eine Bezeichnung wie "Schreibtischtäter" -- ja, oft wird aus Komödie Wirklichkeit und aus Spiel Todesernst.

Dennoch! Eine Aussage, wie
Er ist da - meine ich - vergleichbar mit diesen anderen Schreibtischtätern vom Wannsee (die die "Judenfrage" klären zu müssen glaubten).
ist doch wohl unangebracht! Ich denke man sollte mit solchen Vergleich vorsichtig umgehen, nicht umsonst sprechen wir in Bezug auf den Holocaust von einer Singularität, obwohl auch das sicherlich angezweifelt werden kann, wenn man z.B. an Stalins "Lebenswerk" denkt. Was ich sagen will: Goethe in eine Reihe mit systematisch-industriellen Massenmödern zu stellen? Da klingeln bei mir doch die Alarmglocken. Ich find, das ist nicht die selbe Liga (wie es in Pulp Fiction heißt).

Genug des Protestes. (Wer hätte gedacht, daß ich mich einmal für "DEN besten Dichter ALLER Zeiten" einsetze?) Vielleicht sollten wir mal zu dem zweiten Gedicht der Trilogie übergehen. Ich werd es mal in Ruhe lesen und demnächst einen abwegigen Kommentar dazu in die Welt setzen.

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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon Hieranonuemus » 11.10.2002, 12:53

Geht in Ordnung. Wir könnten natürlich - quasi aus nostalgischen Gründen - den Historikerstreit revue\nachspielen. Ich denke da natürlich an Stalin; aber auch an Pol Pot, die ethnischen Säuberungen hier und da, die Französische Revolution. Von der bürokratischen Planung her, ist der Fall Deutschland natürlich singulär. Da gebe ich Dir Recht. Doch ist das nicht nur eine Nuance? Massenmord hat hier und da stattgefunden - und findet statt. Moralisch gesehen sollte die logistische Schiene da aussenvor bleiben, ist es doch in allen Fällen ein Verbrechen, das zum Himmel schreit. Wieder so ein Reizthema, mit dem ich mich von der Diskussion entfernt habe. Also nochmal zurück: Goethe, ein Prototyp für den Schreibtischtäter von Morgen, der es nicht mehr bei Tagträumen belässt? Was meinst Du zu dieser Klassifizierung?

Gruss.
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon Spiderman » 11.10.2002, 15:15

Hallo Meister Hieranonuemus (hättest Dir wirklich einen leichter buchstabierbaren Namen suchen können),
ich presch in die Diskussion mal mit einer vernichtend kritischen Frage zu Teil II ein:

Ist der masturbierende Hitler mehr als pure Effekthascherei?

Dass ich das Gedicht für insgesamt ziemlich gelungen halte, hab ich Dich ja bereits wissen lassen.

Yours sincerely

SPIDER
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon Hieranonuemus » 11.10.2002, 16:36

Hi Spidey,

so vernichtend finde ich die Frage gar nicht. Ich fürchte aber, dass ich erklären muss weshalb, und dass ich erklären muss, was der masturbierende Hitler eigentlich soll. Die Gefahr ist nämlich, dass ich ins Schwallen komme, abhebe. Ihr lasst es mich doch wissen? - Also gut, begebe ich mich aufs Glatteis: Hitler soll in seiner Vereinzelung gezeigt sein. Der Diktator ist mit seinen Grössenwahnphantasien allein (er träumt von Sichelschnittaktionen und Co), und - was wichtiger ist - mit den Folgen allein. Das ganze spielt im Führerbunker (die "Geborgenheit der Bunker" ). Hitler masturbiert, während er sich in die Phantasiewelt seiner Grossmachtpläne zurück zieht (Rückzug aufs Privateste). Das ganze sehe ich auch als Regress: Hitler befriedigt seinen Machttrieb, der von Aussen nicht mehr gestillt werden kann, selbst. Ich möchte noch auf die erste Strophe hinweisen, in der beschrieben wird, wie Hitler auf seinem Stuhl sitzt: "Knie angewinkelt, am Stuhl, die Füsse hinter die Stuhlbeine geklemmt".
Ein Bisschen Eros und Thanatos. Hitler klammert sich krampfhaft an seinen Grössenwahn und an sein Leben. Es gibt noch einen Link von diesem zitierten Bild zu Bildern von Francis Bacon, mit dem ich mich vom Studium her beschäftigt habe. Drei Studien für Figuren am Fusse einer Kreuzigung etwa, oder der Kreuzigungstryptichon (der mich auch auf die Idee für Titel und Anordnung der drei Gedichte gebracht hat).
Ich komme ganz schön ins Stocken, wenn ich meine Gedichte erklären muss. Aber ich hoffe, weiter geholfen zu haben. Best Wishes.
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Re: Drei Tyrannen im Vorspann eines Dokumentarfilms

Beitragvon gelbsucht » 13.10.2002, 19:46

Moin, moin!

Also ich finde den masturbierenden Hitler irgendwie interessant - Effekthascherei? Und wenn der Effekt gelingt? Das Frappierende, Provokative an dieser Szene ist für mich, daß sie doch ziemlich jämmerlich und menschlich anmutet. Ist es doch immer noch eine historische Person, die extrem polarisiert: die einen verabscheuen ihn, stigmatisieren ihn zu einem Monster, die anderen verehren ihn, stempeln ihn zu einem Übermenschen. Ich glaube mit diesem Bild des sich selbst befriedigenden Mannes wird an beiden überzogenen Vorstellungen gekratzt. Das gefällt mir daran. Es erinnert mich an die letzten Filmaufnahmen, wo er ganz junge Rekruten in einen aussichtlosen Kampf schickt und man deutlich sehen kann, dass er seine Hände nicht unter Kontrolle hat, daß er am Ende ist.

Was mich aber an der ganzen Strophe ein bißchen stört, ist, dass sich sein Größenwahn mit seinem sexuellen Trieb verbindt. Genauer: ich weiß eigentlich nicht, was ich davon halten soll!?
Hitler befriedigt seinen Machttrieb, der von Aussen nicht mehr gestillt werden kann, selbst.

Wenn wir es denn mit Größenwahn zu tun haben, ist doch anzunehmen, dass er überhaupt nicht zu befriedigen ist, dass er krankhaft ist. Aber das ist wieder so eine Darstellung die Hitler pathologisiert, ihn irgendwie durch Unzurechnungsfähigkeit entschuldigt. Insofern verdirbt mir hier der Gedanke wohl einiges von der Lächerlichkeit der Situation.

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