Literaturnobelpreisrede (ein Auszug)
Verfasst: 12.12.2004, 02:16
11. Dezember 2004
<Gast>
Aktuell Feuilleton Bücher
Von Elfriede Jelinek
10. Dezember 2004 Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was geschieht da mit mir? Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen? Die ist ja sowas von zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten könnte. Die Dichter fahren hindurch und versammeln ihre Haare verzweifelt zu einer Frisur, von der sie dann in den Nächten prompt heimgesucht werden. Etwas stimmt nicht mehr mit dem Aussehen. Aus seinem Heim der Träume kann das schön aufgetürmte Haar wieder verjagt werden, das sich aber ohnedies nicht mehr zähmen läßt. Oder wieder zusammengefallen ist und nun als Schleier vor einem Gesicht hängt, kaum daß es endlich gebändigt werden konnte. Oder unwillkürlich zu Berge steht vor Entsetzen vor dem, was dauernd geschieht. Es läßt sich einfach nicht ordnen. Es will nicht.
Etwas stimmt jetzt noch weniger. Das Geschriebene, das vom Geschehen handelt, läuft einem unter der Hand davon wie die Zeit, und nicht nur die Zeit, während der es geschrieben wurde, während der nicht gelebt wurde. Niemand hat etwas versäumt, wenn nicht gelebt worden ist. Nicht der Lebende und nicht die getötete Zeit, und der Tote schon gar nicht. Die Zeit ist, als man noch geschrieben hat, in die Werke andrer Dichter eingedrungen. Da sie die Zeit ist, kann sie alles auf einmal: in die eigene Arbeit eindringen und gleichzeitig in die andrer, in die zerrauften Frisuren andrer fahren wie ein frischer, wenn auch böser Wind, der sich, von der Wirklichkeit her, plötzlich und unerwartet erhoben hat. Der Wutwind weht und reißt alles mit. Und es reißt alles davon, egal wohin, aber nie mehr in diese Wirklichkeit, die ja abgebildet werden soll, zurück. Überallhin, nur dorthin nicht.
Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen?
Die Wirklichkeit ist das, was unter die Haare, unter die Röcke fährt und sie davonreißt, in etwas anderes hinein. Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen, wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort sieht er einerseits besser, andrerseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Aber das Unzureichende, das in ihr Blickfeld gerät, reicht den Dichtern trotzdem immer noch für etwas, das sie aber auch lassen könnten. Sie könnten es sein lassen, und sie lassen es auch sein. Sie bringen es nicht um. Sie schauen es nur an mit ihren unklaren Augen, aber es wird durch diesen unklaren Blick nicht beliebig. Der Blick trifft genau. Das von diesem Blick Getroffene sagt niemals, daß es auch etwas andres hätte sein können, bevor es dieser einen Beschreibung zum Opfer gefallen ist. Es besagt genau das, was besser ungesagt geblieben wäre. Zuviele sind schon bis zum Bauch darin eingesunken.
Es ist Treibsand, aber er treibt nichts an. Es ist grundlos, aber nicht ohne Grund. Es ist beliebig, aber es wird nicht geliebt. Das Außerhalb dient dem Leben, das genau dort nicht stattfindet, sonst wären wir alle ja nicht mittendrin, und es dient der Beobachtung des Lebens, das immer woanders stattfindet. Warum jemanden beschimpfen, weil er auf den Weg des Reisens, des Lebens, des Lebensreisens nicht zurückfindet, wenn es ihn vertragen hat - und dieses Vertragen ist kein sich mit jemand anderem Vertragen, aber auch kein Weitertragen -, einfach zufällig vertragen hat wie den Staub an den Schuhen, der von der Hausfrau unerbittlich verfolgt wird, wenn auch etwas weniger unerbittlich als der Fremde von den Heimischen verfolgt wird.
Man geht dem Weg aus dem Weg
Was ist das für ein Staub? Ist er radioaktiv oder von allein aktiv, einfach so, ich frage ja nur, weil er diese seltsame Leuchtspur auf dem Weg hinterläßt? Ist das, was da nebenher läuft und nie mehr mit dem Schreibenden zusammenkommt, der Weg, oder ist der Schreibende derjenige, der danebenläuft, ins Abseits? Verschieden ist er noch nicht, aber im Abgeschiedenen ist er immerhin schon. Von dort sieht er diejenigen, die von ihm verschieden sind, voneinander aber auch, in ihrer Vielfalt an, um sie in Einfältigkeit darzustellen, um sie in Form zu bringen, denn die Form ist das Wichtigste, von dort aus also sieht er sie besser. Aber auch das wird ihm angekreidet, also sind das Kreidespuren und nicht Leuchtstoffpartikel, die den Weg des Schreibens markieren? In jedem Fall ist es ein Markieren, das gleichzeitig zeigt und verschleiert.
Man geht dem Weg aus dem Weg. Den Weg will man sehen, aber nicht gehen. Hat der Weg, den man nicht gehen kann, Angst davor, gar nicht begangen zu werden, wo doch soviele Sünden begangen werden, andauernd, Folter, Verbrechen, Diebstahl, schwere Nötigung, nötige Schwere beim Herstellen von bedeutenden Weltschicksalen? Dem Weg ist es egal. Der trägt alles auf sich, in Festigkeit, wenn auch grundlos. Ohne Grund. Auf verlorenem Boden. Mir stehen, wie gesagt, die Haare zu Berge, und kein Festiger da, der sie wieder zum Niederlegen zwingen könnte. Auch keine Festigkeit in mir. Wenn man im Abseits ist, muß man immer bereit sein, noch ein Stück und noch ein Stück zur Seite zu springen, ins Nichts, das gleich neben dem Abseits liegt.
Dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, der schnappt nach mir
Es läuft zur Sicherheit, nicht nur um mich zu behüten, meine Sprache neben mir her und kontrolliert, ob ich es auch richtig mache, ob ich es auch richtig falsch mache, die Wirklichkeit zu beschreiben, denn sie muß immer falsch beschrieben werden, aber so falsch, daß jeder, der sie liest oder hört, ihre Falschheit sofort bemerkt. Die lügt ja! Und dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, der schnappt jetzt nach mir. Mein einziger Schutz vor dem Beschriebenwerden, die Sprache, die, umgekehrt, zum Beschreiben von etwas anderem, das nicht ich bin, da ist, mein einziger Schutz kehrt sich also gegen mich. Vielleicht habe ich ihn überhaupt nur, damit er, indem er vorgibt, mich zu schützen, sich auf mich stürzt. Weil ich im Schreiben Schutz gesucht habe, kehrt sich die Sprache gegen mich. Kein Wunder. Ich habe ihr doch sofort mißtraut. Was ist das für eine Tarnung, die dazu da ist, daß man nicht unsichtbar wird, sondern immer deutlicher?
Ich schreie hinüber, in meiner Abgeschiedenheit, über diese Gräber der Verschiedenen stapfend, ich möchte nur irgendwie dorthin, wo meine Sprache schon ist und höhnisch zu mir herübergrinst. Wenn ich mich schon nicht auf sicherem Grund befinde, soll meine Sprache das auch nicht dürfen. Warum ist sie nicht bei mir geblieben, im Abseits? Sie wollte mehr sehen als ich? Auf dem Hauptweg dort drüben, wo mehr Leute sind? Sie wollte mehr wissen als ich? Sie hat zwar je schon mehr gewußt als ich, aber es muß immer noch mehr sein. Sie wird sich durch in sich Hineinfressen noch umbringen, meine Sprache. Geschieht ihr recht! Ich habe sie ausgespuckt, aber sie selber spuckt nichts aus, sie ist eine gute Futterverwerterin. Sie ruft mich an, die Sprache, das kann heute jeder, denn er hat seine Sprache in einem kleinen Gerät immer bei sich, damit er sprechen kann, wozu hätte er es denn gelernt?, sie ruft mich also dort, wo ich in der Falle stecke, schreie und strample, brüllt mir ins Ohr, daß es keinen Sinn hat, etwas auszusprechen, das tut sie schon selber, ich soll einfach sagen, was sie mir vorsagt; denn noch weniger Sinn hätte es, sich einmal auszusprechen mit einem lieben Menschen, der der Fall ist und dem man vertrauen kann, weil er gefallen ist und nicht so schnell wieder aufstehen kann, um einen zu verfolgen.
Meine Sprache ist süchtig nach Liebkosungen
Meine Sprache wälzt sich wohlig in ihrer Suhle, sie wälzt sich auf den Rücken, ein zutrauliches Tier, das den Menschen gefallen möchte wie jede anständige Sprache. Sie ist ja süchtig nach Liebkosungen. Das hält sie davon ab, den Toten nachzuschauen, auf die ich dafür schauen muß. Daher hatte ich ja keine Zeit, meine Sprache im Zaum zu halten, die sich jetzt schamlos unter den Händen der Streichler wälzt. Doch je deutlicher diese Aufforderung zum auf sie, die Toten, Schauen in mir ertönt, umso weniger kann ich auf meine Worte achten. Ich muß auf die Toten schauen, derweil die Spaziergänger die liebe Sprache streicheln, was die Toten nicht lebendiger macht. Niemand hat schuld. Auch ich, zerzaust wie ich und mein Haar sind, habe keine schuld, daß die Toten tot bleiben.
Ich will, daß die Sprache dort drüben endlich aufhört, sich zur Sklavin fremder Hände zu machen, auch wenn sie ihr noch so wohltun, ich will, daß sie anfangen soll, keine Forderungen zu stellen, sondern selbst eine Forderung zu werden, sich endlich zu stellen, nicht dem Liebkosen, sondern einer Forderung, zu mir zurückzukommen. Je mehr Leute die Aufforderung meiner Sprache annehmen, sie am Bauch zu kratzen, desto weiter stolpere ich davon, ich habe meine Sprache endgültig an die verloren, die sie besser behandeln.
Das Sprechen will das Schauen auch noch übernehmen?
Dort drüben schimmert etwas hell unter den Zweigen, ist das der Ort, wo meine Sprache den anderen zuerst schmeichelt, sie in Sicherheit wiegt, nur um selbst endlich liebevoll gewiegt zu werden? Oder will sie gar schon wieder zubeißen? Die will immer nur beißen, bloß wissen die andren das noch nicht, ich aber kenne sie gut, sie war ja lange bei mir. Zuvor wird erst mal gezärtelt und geturtelt mit diesem scheinbar zahmen Tier, das sie ohnehin alle selber zu Hause haben, warum sollten sie sich also ein fremdes ins Haus holen? Warum also sollte diese Sprache anders sein als das, was sie schon kennen? Und wäre sie anders, dann wird es vielleicht nicht ungefährlich sein, sie zu sich zu nehmen. Vielleicht verträgt sie sich nicht mit der, die sie schon haben.
Wer sollte etwas durchschauen, wenn nicht das Schauen? Das Sprechen will das Schauen auch noch übernehmen? Es will sprechen, bevor es noch geschaut hat? Es wälzt sich da, wird von Händen angetappt, wird von Winden angetost, wird von Stürmen verzärtelt, vom Hören beleidigt, bis es gar nicht mehr hinhört. Na ja, dann: alles mal herhören! Wer nicht hören will, muß sprechen, ohne gehört zu werden. Fast alle werden nicht gehört, obwohl sie sprechen. Ich werde gehört, obwohl mir meine Sprache nicht gehört. Man sagt ihr vieles nach. So muß sie selber nicht mehr viel sagen, auch gut. Man hört ihr nach, wie sie langsam nachspricht, während irgendwo ein roter Knopf gedrückt wird, der eine schreckliche Explosion auslöst. Es bleibt nur noch übrig zu sagen: Vater unser, der du bist.
Ich bin der Vater meiner Muttersprache
Sie kann nicht mich damit meinen, obwohl ich schließlich meiner Sprache Vater, also: Mutter bin. Ich bin der Vater meiner Muttersprache. Die Muttersprache war von Anfang an schon da, sie war in mir, aber kein Vater war da, der dazugehörig gewesen wäre. Der Vater hat mitsamt der Muttersprache diese Kleinfamilie verlassen. Recht hatte er. Ich wäre an seiner Stelle auch nicht geblieben. Meine Muttersprache ist jetzt dem Vater nachgegangen, sie ist fort. Sie hört den Leuten auf dem Weg zu. Auf dem Weg des Vaters, der zu früh gegangen ist. Aber je mehr sie weiß, umso nichtssagender wird sie. Sie sagt dauernd etwas, aber sie ist nichtssagend.
Keiner sieht, daß ich ja noch drinnen bin, in der Abgeschiedenheit. Man achtet meiner nicht. Man achtet mich vielleicht schon, aber meiner achtet man nicht. Wie erreiche ich, daß all diese Worte von mir etwas sagen, das uns etwas sagen könnte? Nicht, indem ich spreche. Ich kann ja gar nicht sprechen, meine Sprache ist derzeit nämlich leider nicht zu Hause. Dort drüben sagt sie was andres, das ich ihr auch nicht aufgetragen habe. Mir sagt meine Sprache nichts, wie soll sie dann anderen etwas sagen? Sie ist aber auch nicht nichtssagend, das müssen Sie zugeben! Sie sagt umso mehr, je ferner sie mir ist, ja, erst dann traut sie sich, etwas zu sagen, das sie selber sagen will, dann traut sie sich, mir nicht zu gehorchen.
Das Gesagte soll dem, was man sagen will, nicht zu nahe kommen
Je genauer ich sie auszumachen versuche, umso eigensinniger erlischt sie nicht, die Sprache. Ich mache diese Sprachflamme jetzt mechanisch aus, ich schalte auf Sparflamme, aber je mehr ich mich über sie zu stülpen versuche, ein Ersticker an einem langen Stab, mit dem in meiner Kindheit die Kerzen in der Kirche ausgelöscht wurden, je mehr ich diese Flamme zu ersticken suche, umso mehr Luft scheint sie zu haben. Umso lauter schreit sie, sich wälzend unter Tausenden von Händen, die ihr guttun, was ich leider nie getan habe, ich weiß ja selber nicht, was mir guttun würde, also sie schreit jetzt, damit sie von mir fortbleiben kann. Sie schreit die andren an, damit die in ihr Horn stoßen und schreien wie sie, damit es lauter wird. Sie schreit, daß ich ihr nicht zu nahe kommen soll. Es soll überhaupt keiner einem andren zu nahe kommen. Und das Gesagte soll dem, was man sagen will, auch nicht zu nahe kommen.
Sie macht mir sogar Versprechungen, damit ich wegbleibe von ihr. Sie verspricht mir alles, wenn ich ihr nur nicht nahekomme. Millionen dürfen ihr nahekommen, nur ich nicht! Dabei ist sie meine! Diese Sprache hat ihren Anfang wohl vergessen. Sie hat einst bei mir klein angefangen. Nein, wie die groß geworden ist, gar nicht zum Sagen! So erkenne ich sie ja gar nicht. Ich habe sie noch gekannt, als sie soo klein gewesen ist. Jetzt ist sie auf einmal riesig geworden. Das ist nicht mehr mein Kind. Das Kind ist nicht erwachsen geworden, dafür aber groß, es weiß nicht, daß es mir noch nicht entwachsen ist, aber wach ist es immerhin. Es ist so wach, daß es sich selbst mit seinem Schreien übertönt. Glauben Sie mir, das wollen Sie gar nicht wirklich hören! Ich bin nicht stolz auf dieses Kind, glauben Sie mir auch das, bitte! Ich habe an seinem Anfang gewollt, daß es so leise bleibt wie damals, als es noch sprachlos war.
Ich bin die Gefangene meiner Sprache, die mein Gefängniswärter ist. Komisch - sie paßt ja gar nicht auf mich auf! Weil sie meiner so sicher ist? Weil sie so sicher ist, daß ich nicht wegrenne, glaubt sie deshalb, sie kann selber von mir fort? Da kommt einer, der schon gestorben ist, und der spricht zu mir, obwohl das für ihn nicht vorgesehen ist. Er darf das, viele Tote sprechen jetzt mit ihren erstickten Stimmen, jetzt trauen sie sich das, weil meine eigene Sprache nicht auf mich aufpaßt. Weil sie weiß, daß das nicht nötig ist. Wenn sie mir auch wegrennen mag, ich komme ihr nicht abhanden. Ich bin ihr zu Handen, aber dafür ist sie mir abhanden gekommen. Ich aber bleibe. Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter. Was bleibt, ist fort. Der Höhenflug wurde gestrichen. Es ist nichts und niemand eingetroffen. Und wenn doch, wider jede Vernunft, etwas, das gar nicht angekommen ist, doch ein wenig bleiben möchte, dann ist dafür das, was bleibt, das Flüchtigste, die Sprache, verschwunden. Sie hat auf ein neues Stellenangebot geantwortet. Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt einem also übrig.
Weil ich im Schreiben Schutz gesucht habe, kehrt sich die Sprache, die mir ein sicherer Unterstand zu sein schien, gegen mich. Kein Wunder. Ich habe ihr doch sofort mißtraut. Was ist das für eine Tarnung, die dazu da ist, daß man nicht unsichtbar wird, sondern immer deutlicher?
© Die Nobelstiftung 2004
Bei der hier abgedruckten Rede handelt es sich um eine gekürzte Fassung.
<Gast>
Aktuell Feuilleton Bücher
Von Elfriede Jelinek
10. Dezember 2004 Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was geschieht da mit mir? Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen? Die ist ja sowas von zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten könnte. Die Dichter fahren hindurch und versammeln ihre Haare verzweifelt zu einer Frisur, von der sie dann in den Nächten prompt heimgesucht werden. Etwas stimmt nicht mehr mit dem Aussehen. Aus seinem Heim der Träume kann das schön aufgetürmte Haar wieder verjagt werden, das sich aber ohnedies nicht mehr zähmen läßt. Oder wieder zusammengefallen ist und nun als Schleier vor einem Gesicht hängt, kaum daß es endlich gebändigt werden konnte. Oder unwillkürlich zu Berge steht vor Entsetzen vor dem, was dauernd geschieht. Es läßt sich einfach nicht ordnen. Es will nicht.
Etwas stimmt jetzt noch weniger. Das Geschriebene, das vom Geschehen handelt, läuft einem unter der Hand davon wie die Zeit, und nicht nur die Zeit, während der es geschrieben wurde, während der nicht gelebt wurde. Niemand hat etwas versäumt, wenn nicht gelebt worden ist. Nicht der Lebende und nicht die getötete Zeit, und der Tote schon gar nicht. Die Zeit ist, als man noch geschrieben hat, in die Werke andrer Dichter eingedrungen. Da sie die Zeit ist, kann sie alles auf einmal: in die eigene Arbeit eindringen und gleichzeitig in die andrer, in die zerrauften Frisuren andrer fahren wie ein frischer, wenn auch böser Wind, der sich, von der Wirklichkeit her, plötzlich und unerwartet erhoben hat. Der Wutwind weht und reißt alles mit. Und es reißt alles davon, egal wohin, aber nie mehr in diese Wirklichkeit, die ja abgebildet werden soll, zurück. Überallhin, nur dorthin nicht.
Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen?
Die Wirklichkeit ist das, was unter die Haare, unter die Röcke fährt und sie davonreißt, in etwas anderes hinein. Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen, wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort sieht er einerseits besser, andrerseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Aber das Unzureichende, das in ihr Blickfeld gerät, reicht den Dichtern trotzdem immer noch für etwas, das sie aber auch lassen könnten. Sie könnten es sein lassen, und sie lassen es auch sein. Sie bringen es nicht um. Sie schauen es nur an mit ihren unklaren Augen, aber es wird durch diesen unklaren Blick nicht beliebig. Der Blick trifft genau. Das von diesem Blick Getroffene sagt niemals, daß es auch etwas andres hätte sein können, bevor es dieser einen Beschreibung zum Opfer gefallen ist. Es besagt genau das, was besser ungesagt geblieben wäre. Zuviele sind schon bis zum Bauch darin eingesunken.
Es ist Treibsand, aber er treibt nichts an. Es ist grundlos, aber nicht ohne Grund. Es ist beliebig, aber es wird nicht geliebt. Das Außerhalb dient dem Leben, das genau dort nicht stattfindet, sonst wären wir alle ja nicht mittendrin, und es dient der Beobachtung des Lebens, das immer woanders stattfindet. Warum jemanden beschimpfen, weil er auf den Weg des Reisens, des Lebens, des Lebensreisens nicht zurückfindet, wenn es ihn vertragen hat - und dieses Vertragen ist kein sich mit jemand anderem Vertragen, aber auch kein Weitertragen -, einfach zufällig vertragen hat wie den Staub an den Schuhen, der von der Hausfrau unerbittlich verfolgt wird, wenn auch etwas weniger unerbittlich als der Fremde von den Heimischen verfolgt wird.
Man geht dem Weg aus dem Weg
Was ist das für ein Staub? Ist er radioaktiv oder von allein aktiv, einfach so, ich frage ja nur, weil er diese seltsame Leuchtspur auf dem Weg hinterläßt? Ist das, was da nebenher läuft und nie mehr mit dem Schreibenden zusammenkommt, der Weg, oder ist der Schreibende derjenige, der danebenläuft, ins Abseits? Verschieden ist er noch nicht, aber im Abgeschiedenen ist er immerhin schon. Von dort sieht er diejenigen, die von ihm verschieden sind, voneinander aber auch, in ihrer Vielfalt an, um sie in Einfältigkeit darzustellen, um sie in Form zu bringen, denn die Form ist das Wichtigste, von dort aus also sieht er sie besser. Aber auch das wird ihm angekreidet, also sind das Kreidespuren und nicht Leuchtstoffpartikel, die den Weg des Schreibens markieren? In jedem Fall ist es ein Markieren, das gleichzeitig zeigt und verschleiert.
Man geht dem Weg aus dem Weg. Den Weg will man sehen, aber nicht gehen. Hat der Weg, den man nicht gehen kann, Angst davor, gar nicht begangen zu werden, wo doch soviele Sünden begangen werden, andauernd, Folter, Verbrechen, Diebstahl, schwere Nötigung, nötige Schwere beim Herstellen von bedeutenden Weltschicksalen? Dem Weg ist es egal. Der trägt alles auf sich, in Festigkeit, wenn auch grundlos. Ohne Grund. Auf verlorenem Boden. Mir stehen, wie gesagt, die Haare zu Berge, und kein Festiger da, der sie wieder zum Niederlegen zwingen könnte. Auch keine Festigkeit in mir. Wenn man im Abseits ist, muß man immer bereit sein, noch ein Stück und noch ein Stück zur Seite zu springen, ins Nichts, das gleich neben dem Abseits liegt.
Dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, der schnappt nach mir
Es läuft zur Sicherheit, nicht nur um mich zu behüten, meine Sprache neben mir her und kontrolliert, ob ich es auch richtig mache, ob ich es auch richtig falsch mache, die Wirklichkeit zu beschreiben, denn sie muß immer falsch beschrieben werden, aber so falsch, daß jeder, der sie liest oder hört, ihre Falschheit sofort bemerkt. Die lügt ja! Und dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, der schnappt jetzt nach mir. Mein einziger Schutz vor dem Beschriebenwerden, die Sprache, die, umgekehrt, zum Beschreiben von etwas anderem, das nicht ich bin, da ist, mein einziger Schutz kehrt sich also gegen mich. Vielleicht habe ich ihn überhaupt nur, damit er, indem er vorgibt, mich zu schützen, sich auf mich stürzt. Weil ich im Schreiben Schutz gesucht habe, kehrt sich die Sprache gegen mich. Kein Wunder. Ich habe ihr doch sofort mißtraut. Was ist das für eine Tarnung, die dazu da ist, daß man nicht unsichtbar wird, sondern immer deutlicher?
Ich schreie hinüber, in meiner Abgeschiedenheit, über diese Gräber der Verschiedenen stapfend, ich möchte nur irgendwie dorthin, wo meine Sprache schon ist und höhnisch zu mir herübergrinst. Wenn ich mich schon nicht auf sicherem Grund befinde, soll meine Sprache das auch nicht dürfen. Warum ist sie nicht bei mir geblieben, im Abseits? Sie wollte mehr sehen als ich? Auf dem Hauptweg dort drüben, wo mehr Leute sind? Sie wollte mehr wissen als ich? Sie hat zwar je schon mehr gewußt als ich, aber es muß immer noch mehr sein. Sie wird sich durch in sich Hineinfressen noch umbringen, meine Sprache. Geschieht ihr recht! Ich habe sie ausgespuckt, aber sie selber spuckt nichts aus, sie ist eine gute Futterverwerterin. Sie ruft mich an, die Sprache, das kann heute jeder, denn er hat seine Sprache in einem kleinen Gerät immer bei sich, damit er sprechen kann, wozu hätte er es denn gelernt?, sie ruft mich also dort, wo ich in der Falle stecke, schreie und strample, brüllt mir ins Ohr, daß es keinen Sinn hat, etwas auszusprechen, das tut sie schon selber, ich soll einfach sagen, was sie mir vorsagt; denn noch weniger Sinn hätte es, sich einmal auszusprechen mit einem lieben Menschen, der der Fall ist und dem man vertrauen kann, weil er gefallen ist und nicht so schnell wieder aufstehen kann, um einen zu verfolgen.
Meine Sprache ist süchtig nach Liebkosungen
Meine Sprache wälzt sich wohlig in ihrer Suhle, sie wälzt sich auf den Rücken, ein zutrauliches Tier, das den Menschen gefallen möchte wie jede anständige Sprache. Sie ist ja süchtig nach Liebkosungen. Das hält sie davon ab, den Toten nachzuschauen, auf die ich dafür schauen muß. Daher hatte ich ja keine Zeit, meine Sprache im Zaum zu halten, die sich jetzt schamlos unter den Händen der Streichler wälzt. Doch je deutlicher diese Aufforderung zum auf sie, die Toten, Schauen in mir ertönt, umso weniger kann ich auf meine Worte achten. Ich muß auf die Toten schauen, derweil die Spaziergänger die liebe Sprache streicheln, was die Toten nicht lebendiger macht. Niemand hat schuld. Auch ich, zerzaust wie ich und mein Haar sind, habe keine schuld, daß die Toten tot bleiben.
Ich will, daß die Sprache dort drüben endlich aufhört, sich zur Sklavin fremder Hände zu machen, auch wenn sie ihr noch so wohltun, ich will, daß sie anfangen soll, keine Forderungen zu stellen, sondern selbst eine Forderung zu werden, sich endlich zu stellen, nicht dem Liebkosen, sondern einer Forderung, zu mir zurückzukommen. Je mehr Leute die Aufforderung meiner Sprache annehmen, sie am Bauch zu kratzen, desto weiter stolpere ich davon, ich habe meine Sprache endgültig an die verloren, die sie besser behandeln.
Das Sprechen will das Schauen auch noch übernehmen?
Dort drüben schimmert etwas hell unter den Zweigen, ist das der Ort, wo meine Sprache den anderen zuerst schmeichelt, sie in Sicherheit wiegt, nur um selbst endlich liebevoll gewiegt zu werden? Oder will sie gar schon wieder zubeißen? Die will immer nur beißen, bloß wissen die andren das noch nicht, ich aber kenne sie gut, sie war ja lange bei mir. Zuvor wird erst mal gezärtelt und geturtelt mit diesem scheinbar zahmen Tier, das sie ohnehin alle selber zu Hause haben, warum sollten sie sich also ein fremdes ins Haus holen? Warum also sollte diese Sprache anders sein als das, was sie schon kennen? Und wäre sie anders, dann wird es vielleicht nicht ungefährlich sein, sie zu sich zu nehmen. Vielleicht verträgt sie sich nicht mit der, die sie schon haben.
Wer sollte etwas durchschauen, wenn nicht das Schauen? Das Sprechen will das Schauen auch noch übernehmen? Es will sprechen, bevor es noch geschaut hat? Es wälzt sich da, wird von Händen angetappt, wird von Winden angetost, wird von Stürmen verzärtelt, vom Hören beleidigt, bis es gar nicht mehr hinhört. Na ja, dann: alles mal herhören! Wer nicht hören will, muß sprechen, ohne gehört zu werden. Fast alle werden nicht gehört, obwohl sie sprechen. Ich werde gehört, obwohl mir meine Sprache nicht gehört. Man sagt ihr vieles nach. So muß sie selber nicht mehr viel sagen, auch gut. Man hört ihr nach, wie sie langsam nachspricht, während irgendwo ein roter Knopf gedrückt wird, der eine schreckliche Explosion auslöst. Es bleibt nur noch übrig zu sagen: Vater unser, der du bist.
Ich bin der Vater meiner Muttersprache
Sie kann nicht mich damit meinen, obwohl ich schließlich meiner Sprache Vater, also: Mutter bin. Ich bin der Vater meiner Muttersprache. Die Muttersprache war von Anfang an schon da, sie war in mir, aber kein Vater war da, der dazugehörig gewesen wäre. Der Vater hat mitsamt der Muttersprache diese Kleinfamilie verlassen. Recht hatte er. Ich wäre an seiner Stelle auch nicht geblieben. Meine Muttersprache ist jetzt dem Vater nachgegangen, sie ist fort. Sie hört den Leuten auf dem Weg zu. Auf dem Weg des Vaters, der zu früh gegangen ist. Aber je mehr sie weiß, umso nichtssagender wird sie. Sie sagt dauernd etwas, aber sie ist nichtssagend.
Keiner sieht, daß ich ja noch drinnen bin, in der Abgeschiedenheit. Man achtet meiner nicht. Man achtet mich vielleicht schon, aber meiner achtet man nicht. Wie erreiche ich, daß all diese Worte von mir etwas sagen, das uns etwas sagen könnte? Nicht, indem ich spreche. Ich kann ja gar nicht sprechen, meine Sprache ist derzeit nämlich leider nicht zu Hause. Dort drüben sagt sie was andres, das ich ihr auch nicht aufgetragen habe. Mir sagt meine Sprache nichts, wie soll sie dann anderen etwas sagen? Sie ist aber auch nicht nichtssagend, das müssen Sie zugeben! Sie sagt umso mehr, je ferner sie mir ist, ja, erst dann traut sie sich, etwas zu sagen, das sie selber sagen will, dann traut sie sich, mir nicht zu gehorchen.
Das Gesagte soll dem, was man sagen will, nicht zu nahe kommen
Je genauer ich sie auszumachen versuche, umso eigensinniger erlischt sie nicht, die Sprache. Ich mache diese Sprachflamme jetzt mechanisch aus, ich schalte auf Sparflamme, aber je mehr ich mich über sie zu stülpen versuche, ein Ersticker an einem langen Stab, mit dem in meiner Kindheit die Kerzen in der Kirche ausgelöscht wurden, je mehr ich diese Flamme zu ersticken suche, umso mehr Luft scheint sie zu haben. Umso lauter schreit sie, sich wälzend unter Tausenden von Händen, die ihr guttun, was ich leider nie getan habe, ich weiß ja selber nicht, was mir guttun würde, also sie schreit jetzt, damit sie von mir fortbleiben kann. Sie schreit die andren an, damit die in ihr Horn stoßen und schreien wie sie, damit es lauter wird. Sie schreit, daß ich ihr nicht zu nahe kommen soll. Es soll überhaupt keiner einem andren zu nahe kommen. Und das Gesagte soll dem, was man sagen will, auch nicht zu nahe kommen.
Sie macht mir sogar Versprechungen, damit ich wegbleibe von ihr. Sie verspricht mir alles, wenn ich ihr nur nicht nahekomme. Millionen dürfen ihr nahekommen, nur ich nicht! Dabei ist sie meine! Diese Sprache hat ihren Anfang wohl vergessen. Sie hat einst bei mir klein angefangen. Nein, wie die groß geworden ist, gar nicht zum Sagen! So erkenne ich sie ja gar nicht. Ich habe sie noch gekannt, als sie soo klein gewesen ist. Jetzt ist sie auf einmal riesig geworden. Das ist nicht mehr mein Kind. Das Kind ist nicht erwachsen geworden, dafür aber groß, es weiß nicht, daß es mir noch nicht entwachsen ist, aber wach ist es immerhin. Es ist so wach, daß es sich selbst mit seinem Schreien übertönt. Glauben Sie mir, das wollen Sie gar nicht wirklich hören! Ich bin nicht stolz auf dieses Kind, glauben Sie mir auch das, bitte! Ich habe an seinem Anfang gewollt, daß es so leise bleibt wie damals, als es noch sprachlos war.
Ich bin die Gefangene meiner Sprache, die mein Gefängniswärter ist. Komisch - sie paßt ja gar nicht auf mich auf! Weil sie meiner so sicher ist? Weil sie so sicher ist, daß ich nicht wegrenne, glaubt sie deshalb, sie kann selber von mir fort? Da kommt einer, der schon gestorben ist, und der spricht zu mir, obwohl das für ihn nicht vorgesehen ist. Er darf das, viele Tote sprechen jetzt mit ihren erstickten Stimmen, jetzt trauen sie sich das, weil meine eigene Sprache nicht auf mich aufpaßt. Weil sie weiß, daß das nicht nötig ist. Wenn sie mir auch wegrennen mag, ich komme ihr nicht abhanden. Ich bin ihr zu Handen, aber dafür ist sie mir abhanden gekommen. Ich aber bleibe. Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter. Was bleibt, ist fort. Der Höhenflug wurde gestrichen. Es ist nichts und niemand eingetroffen. Und wenn doch, wider jede Vernunft, etwas, das gar nicht angekommen ist, doch ein wenig bleiben möchte, dann ist dafür das, was bleibt, das Flüchtigste, die Sprache, verschwunden. Sie hat auf ein neues Stellenangebot geantwortet. Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt einem also übrig.
Weil ich im Schreiben Schutz gesucht habe, kehrt sich die Sprache, die mir ein sicherer Unterstand zu sein schien, gegen mich. Kein Wunder. Ich habe ihr doch sofort mißtraut. Was ist das für eine Tarnung, die dazu da ist, daß man nicht unsichtbar wird, sondern immer deutlicher?
© Die Nobelstiftung 2004
Bei der hier abgedruckten Rede handelt es sich um eine gekürzte Fassung.