Ich bin eigentlich gar nicht hier

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Spiderman
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Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Spiderman » 29.12.2004, 21:22

Ich bin eigentlich gar nicht hier

Die werdenden Eltern beim Vögeln ein Sog
wie aus Düsen, im Rauch der sich spiegelnden Luft
verschmolzen leuchtende Würmer zur Flamme, dann Switch
Switch auf Weiß, Switch auf Rot,
dem Schwarz folgte Klarheit: geschöpft
aus einer sämigen Suppe, gesetzt
in ein glibberiges Nest und genährt
durch den Mamaschlauch, Monat für Monat,
holte mich die Neon-Sonne aus Kohlenstaub/Eiweiß
in eine Leere voll Petting, Popcorn und Pershing,
in eine Leere, durch die sich der Wind
tief unter die Haut gräbt, so lang
bis ein Schmetterling die Wolken durchbricht
und sein Glimmen im All aller Welten erlischt.

30 Jahre später sitze ich an dem Tisch,
auf dem noch das Geschirr von Vorgestern steht,
das Hohe C mit multiplen Vitaminen mich lockt
und der Joghurt bessere Zeiten im Kühlschrank erhofft.
Zur Feier des Tages trag ich mein Nervenkostüm,
ein Blitzlichtgewitter aus Weiß, Rot und Schwarz,
mich kann es eigentlich gar nicht geben.

Ich spreche, ich denke, fühle und tu so,
als gehörten die Muskeln zu mir, bewege
Gelenke, um Joghurt, Saft und Geschirr zu begreifen,
ich stoße in einen Raum,
den es eigentlich gar nicht gibt,
ich horch auf den Takt meines Körpers
und nehm das Blut in den Adern und Venen
an wie ein Geschenk, das dem Zufall gehört.

Verschwunden im Diesseits denk ich an sie
wie an einen Felsen, der in den Ozean ragt,
wie an zwei Stühle auf einem Balkon,
wie an einen kühlen Drink in der Strandbar
oder wie an den Sand,
der sich ein Nest baut
in ihrem Haar.

Ich bin eigentlich gar nicht hier
und doch live, Übertragung in Jetztzeit,
ich denke daran, wie sie weg ist,
ein Umsturz, der die Farben vermischt,
ein Bauchgefühl, dem's die Sprache verschlägt
und ein Schweigen, das die Berührung ersetzt,
mein Körper ist satellitengesteuerte Revolution.

Ich bin eigentlich gar nicht hier
und werde eine ganze Weile noch bleiben,
als Eiskristall am Fenster der Bahnhofsmission,
als das Dynamit in einem einsamen Bergwerk,
als die Laus auf dem Blatt beim Orkan
und als die Erde unter den Füßen.

Ich werde bleiben und live sein,
lieben, hassen und Wurstbrote essen.
Unbeständig sind Wetter und Leben.
Welchen Ort hat das Weiß
und welchen das Rot und das Schwarz?
Wie läßt sich der Ort von Gedanken vermessen?
Es gibt keine Uhr ohne Uhrwerk.
Ich bin eigentlich gar nicht hier,
denn hier ist woanders und ich bin bei mir.
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

Lunch
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Lunch » 02.01.2005, 21:46

Also technisch gefällt mir das sehr gut, es hat einen rastlosen Rhythmus, und die Bilder sind auch schön gedacht, und da sind eben diese Motive, die wiederholt werden, und die scheinen ja zu einem guten Gedicht zu gehören.
Aber was den Inhalt an sich angeht, so klingt mir das ein bisschen zu sehr nach Weltschmerz. Vielleicht bin ich auch einfach nicht so in der Stimmungfür sowas.
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Silentium
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Silentium » 02.01.2005, 23:09

Sorry, da muss ich widersprechen.
Weltschmerz wäre "Ach, du schnöde Wehehelt, ich möcht *schluchz* dir nur sagen, wie böhös die Mehehenschen doch alsamt sind." Das wär Weltschmerz.

Das Gedicht klingt aber nach Spider und das is das höchste lob, das es gibt.

Ultimative Lieblingszeile:
Ich werde bleiben und live sein,
lieben, hassen und Wurstbrote essen.
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Wintersonne » 02.01.2005, 23:15

Das Gedicht erschlägt mich! Finde ich es gut oder finde ich es schlecht? Es haut mich um! Irgendwie malst du den Wahnsinn. Ach was, ich weiß es einfach nicht. Dieses Gedicht ist einfach nur wahnsinnig. Ich hab es mir ausgedruckt. Es muß in die Anthologie. Ich denke, ich werde es noch sehr, sehr viele Male lesen.
Ich bin ich - und das jeden Tag ein wenig mehr.

Spiderman
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Spiderman » 03.01.2005, 02:24

Danke Euch Dreien für die Kommentare. "Weltschmerz" erkenne ich in meinem Gedicht eigentlich nicht, aber - und das könntest Du meinen, Lunch - an einigen Stellen fing in meinem Kopf die Zu-viel-Pathos-Alarmsirene an zu vibrieren. Z.B. das "Dynamit im einsamen Bergwerk" oder die Fragen am Schluß sind schon ein bissl dick aufgetragen. Das kann manchmal ein Dosierungsproblem sein, zumal ich ein gewisses Pathos auch schätze. Dann braucht's allerdings auch ein Wurstbrot dazwischen.

Eine Frage hätte ich noch an Euch: was kommt denn in den ersten sechs Zeilen bei Euch rüber? Wie versteht ihr diese Zeilen? Ich weiß nicht, inwieweit ich mich da verständlich ausgedrückt habe. Hab da ewig lang dran rumgedoktort.

Gute Nacht wünscht
Spiderman
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Silentium » 03.01.2005, 14:52

Die werdenden Eltern beim Vögeln ein Sog
wie aus Düsen, im Rauch der sich spiegelnden Luft
verschmolzen leuchtende Würmer zur Flamme, dann Switch
Switch auf Weiß, Switch auf Rot,
dem Schwarz folgte Klarheit:


Also, ich hab das so gelesen (okay, zugegeben, die deutung ist lächerlich, aber eine andere hab ich nicht gefunden):

Bis zum Switch vögeln die werdenden Eltern, Rauch und leuchtende Würmer haben fast was Ursuppen-feeling-,mäßiges. Ab den Switch dann diese Szenen, wie man sie hat, wenn der Film mit der Zeugung des Protagonisten anfängt: das Innere eines Eileiters, abwechselnd schattig in schwarz oder, erleuchtet, in diesem urig-orangen Rot und weiß. Dann isses noch mal kurz schwarz und dann folgt für den, der's noch nicht überissen hat, worum's geht, die Klarheit einer Gebärmutter. Oder umgekehrt, er redet schon gar nimmer von der Zeugung, sondern von der Geburt. Oder das "Schwarz" sind dann, als logische folge des Vorhergegangenen Rot, die neun Monate Schwangerschaft. Oder irgendwie so.

?-(
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Lunch
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Lunch » 03.01.2005, 22:58

Also um das mit dem Weltschmerz ein wenig zu erklären: Mir scheint es, als hätte das Gedicht etwas gegen das Menschendasein, und ich sehe das an Formulierungen, die menschliche Dinge sehr lapidar bis abwertend ausdrücken. Da wäre z. B. der Anfang. Die Zeugung eines Kindes wird als 'Vögeln' bezeichnet, was dann folgt ist für mich eine Beschreibung der Organe des menschlichen Körpers bzw. des Wachstums des Embryos. Man beachte auch hier wieder die Wortwahl; 'Ein Sog wie aus Düsen' (Orgasmus hier gemeint? ->wirklich nicht nett), 'leuchtende Würmer' (Spermien?), sämige Suppe, glibbriges Nest, Mamaschlauch....was das mit dem Switch die ganze Zeit am Anfang soll, verstehe ich nicht, die Farben sind für mich symbolisch für Undschuld/ Beginn, Liebe/ Gewalt und Tod... gleichzeitig sind das wieder die Farben von Organen, aber da bin ich mir auch nicht so sicher. Jedenfalls ist das keine sehr freundlich klingenede Beschreibung von der Entstehung eines Menschen, es klingt eher angeekelt.
Dann ist das LI 'in einer Leere', die mit Bedeutungslosem angefüllt ist. Dann ein Zeitsprung, das LI denkt an 'sie', also hat's wohl was mit Liebe zu tun, und insgesamt ist es in seiner Gedankenwelt verschwunden und eingentlich auch körperlich kaum noch da, fast mehr für die Welt wahrnehmbar als für sich selbst (darauf schließe ich wegen der Live- Übertragung). Die ominöse 'sie' muss der Leere vom Anfang wohl sowas wie Sinn gegeben haben, aber jetzt ist sie eindeutig nicht mehr da, und das LI 'eigentlich auch nicht'.

Für mich klingt das traurig und nach Gedanken, die man eben manchmal so hat, wenn man etwas melancholisch ist. Weltschmerz ist da vielleicht ein ein wenig zu negatives Wort.

Anyway, das waren meine etwas ungeordneten, spontanen Assoziationen, wahrscheinlich sowieso alle falsch ;). Ich finde aber das Ganze auch teilweise sehr schwer zu entschlüsseln, sowohl im Einzelnen als auch in seiner Gesamtaussage. Aber das muss man ja auch nicht immer.
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Spiderman » 04.01.2005, 21:29

Danke, Silentium und Lunch, nochmal für die Ausführungen. An einigen Stellen fällt es mir selber noch schwer, die Stimmung, die beim Leser ankommen könnte, einzuschätzen.
Die ersten Zeilen habe ich zigmal geändert. Die Idee war, das lyrische Ich erstmal zu zeugen. Das lyrische Ich sieht von außen seine Eltern und fühlt sich von ihnen wie durch einen Sog angezogen. Daraufhin hat das lyrische Ich Erscheinungen, die den Eintritt ins Leben begleiten. Das Körperliche ist dabei die eine Seite und Euren Ausführungen gemäß entstehen dazu die meisten Assoziationen: Gebärmutter, Spermien, Nabelschnur. Das Andere sind die von mir bemühten Bewußtseinsprozesse, dazu auch die Farben. Deine Assoziationen zu den Farben, Lunch, passen mir da eigentlich sehr gut ins Konzept. Dennoch überlege ich, ob ich die ersten Zeilen nicht wieder streiche und mit "geschöpft aus einer..." anfange. Das ganze Vorher erscheint mir doch sehr waghalsig.

Es grüßt Euch

Spiderman
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Flocke » 05.01.2005, 12:49

Hallo, Spiderman.

Dennoch überlege ich, ob ich die ersten Zeilen nicht wieder streiche und mit "geschöpft aus einer..." anfange. Das ganze Vorher erscheint mir doch sehr waghalsig.


Waghalsig würde ich jetzt nicht sagen, aber wenn ich es ohne diese Zeilen lese, wirkt es für mich besser, insofern würde ich deinen Vorschlag der Kürzung unterstützen. Der Einstieg kommt dann etwas stärker rüber, zumindest für meine Begriffe.

An einer Kleinigkeit hänge ich noch, kann aber an mir liegen. Du schreibst:

...als gehörten die Muskeln zu mir, bewege
Gelenke, um Joghurt, Saft und Geschirr zu begreifen,...


Das klingt mir beim zweiten Lesen etwas mißverständlich, als wenn du Gelenke brauchst, um etwas zu begreifen/zu verstehen. Dazu reicht doch eigentlich ein Bewußtsein/Kopf, das ist aber m. E. kein Gelenk in dem Sinne.
Oder meintest du das wörtlich im Sinne von greifen/in die Hand nehmen? Dann paßt "begreifen" m. E. aber nicht, das ist gemeinhin anders belegt.

Ansonsten sehr schöner Text. Hut ab.

Lieber Gruß
Flocke
...Der den Wind kennt / besser als alle Bücher / den Baum / frag nach Wahrheit...

Spiderman
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Re: Ich bin eigentlich gar nicht hier

Beitragvon Spiderman » 06.01.2005, 23:41

Ja, Flocke, tendiere inzwischen auch zum Streichen. Mal den ganzen Ballast aus dem Gedicht streichen. Das mit den Gelenken und Sehnen ist wirklich so gemeint. Es gibt einen sehr engen Zusammenhang zwischen Denktätigkeit und Motorik. Man könnte sagen, Denken ist sowas wie ein Hantieren mit imaginären Gegenständen. Und nicht umsonst fassen kleine Kinder alles an, um zu verstehen was sie vor sich haben.
Liebe Grüße
Spidey
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