Diskussion mit einer Amsel

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Silentium
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Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Silentium » 21.01.2005, 22:17

Die Katze hat gemeint,
sie vollbringt eine Heldentat,
wenn sie eine Amsel anschleppt,
noch lebendig.

Mama hat gemeint,
sie kann die Amsel gesundpflegen.
Mama ist Ärztin, sie pflegt alles
was sich noch irgendwie rührt.

Ich hab gemeint,
dass es besser wäre,
das Amselgenick zu brechen.
Der rechte Flügel halb gehäutet,
die Rippen bloßgelegt,
und ein schwerer Schock-
das überlebt ein kleiner Vogel nicht.

Mama und Vogel haben gehofft,
beide.
In den Vogelaugen ist gestanden:
„Ich schaff das! Ich schaff das!“
Drum war ich so sicher,
dass die Amsel stirbt.

Stundenlang hat sie
mit einem Strohalm Wasser
in den Hals gezwungen
und die Wunden gesäubert.
Verbinden ging nicht,
weil die Amsel dafür zu klein war.

Mama weint um kleine Tiere,
das ist halt ihre Art.
Und je länger sie die kleinen Tiere kennt
um so mehr weint sie.
Sie hat mir schon Leid getan,
wie der Vogel noch geglaubt hat,
dass er überleben wird.

Mama hat geflüstert:
„Warte, ich hol nur einen Tupfer.“
und ist hinausgegangen.
Sie hat dabei nicht mit mir geredet.
Ich hab den Vogel angeschaut
und gesagt:
„Es wäre besser für euch beide,
wenn ich jetzt dein Genick breche.“
„Ich schaff das!“
„Es geht ganz schnell,
auch wenn ich keine Übung
beim Genickbrechen hab.
Aber es kann nicht schwer sein
und ich werd mich bemühen,
dir so wenig wie möglich
weh zu tun.“
„Ich schaff das! Ich schaff das!“
„In zwei Stunden bist du tot
und sie wird um dich weinen.
Wenn du gleich stirbst,
dann ist es nicht ganz so schlimm
für sie
und für dich
ist es schneller vorbei.“
„Ich schaff das!“

Ich hab der Amsel
das Genick nicht gebrochen
und sie hat
noch drei Stunden lang gelebt.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Auf Eulen Schwingen
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 22.01.2005, 15:13

Ein großes Gedicht,
in Prosa, privat und traurig,
nicht larmoyant, nicht abgeklärt.
stockend liest man es.
Es fasst dir ans Herz.
aes
(auf!eulen schwingen)

Silentium
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Silentium » 22.01.2005, 17:05

:-)
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gelbsucht
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon gelbsucht » 26.01.2005, 22:55

Weißt du, Silence, es macht mir viel Freude zu verfolgen, wie du dich jetzt auch der freieren Form (vom "Mörderlein" über das Adents-Gemütlichkeits-Desillusions-Fiasko, das mir schon sehr gefallen hat, bis zu diesem wunderschönen, empfindsamen Gedicht hier) immer mehr angenähert und sie verinnerlicht hast, und wie du damit dein Handwerk wieder ein Stück weiter entwickelt und dein Talent ausgebildet hast. Weiter so, weiter so! Ansonsten ist dem Urteil des Good Owl Swinging Guys nichts hinzuzufügen. Dieses Gedicht berührt mich tief im Herzen - die Gewalt, die Zärtlichkeit, die Verletzlichkeit allen Lebens, das zwiegesichtige Mitleid (Gnadentod vs. Pflege, die Empathie und das Mitleiden mit der Mutter) und dann der Tod, der Endgültige. Es steckt viel drin in diesem Gedicht und du hast für das, was du sagen wolltest, eine angemessene Form gefunden. Ich bin überzeugt, dass Jamben und Reime hier einiges verdorben hätten.

Großen Respekt. :ja:

;-) vom gelbling :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Silentium
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Silentium » 27.01.2005, 15:22

Hm... ich überlege grad, ob ich mir diese antworten ausdrucken und an die wand hängen soll...

Was die Reime angeht: die erste version war gereimt und schauderhaft. Das Thema schien sich einfach nicht mit gleichen endsilben zu vertragen. Allergische reaktion oder so was.
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Edekire » 31.01.2005, 18:41

es ist zwar irgendwie blöd aber ich kann den anderen nur zustimmen. ein wirklich schönes gedicht, so leisetraurig.

:-)

edekire
ich wünschte ich hätte musik, doch ich habe nur worte
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Silentium » 31.01.2005, 19:13

Ist zwar wirklich blöd, aber ich kann mich nur wiederholen: :-)
:-D
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Spiderman » 31.01.2005, 20:36

Okay, Silence, von mir kriegst Du auch noch Dein wohlverdientes Lob und ich kann mich nur Dirk anschließen, wenn er Dir eine hervorragende Weiterentwicklung attestiert. Was ich bei dem Gedicht vor allem loben möchte, ist die Empfindsamkeit, das Gefühl, das "echt" wirkt, ohne sentimental, kitschig oder ironisch zersetzt zu sein.

Negative Kritik habe ich keine, allerdings ein paar Fragen.
* Warum hast Du diese Form gewählt? Warum kein kurzer Prosatext?
* Wie bist Du mit der rhythmischen Gestaltung umgegangen?
* Warum hast Du auf Möglichkeiten der Verknappung, Verdichtung, Kürzung verzichtet?

Gut gemacht!

Spider
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

Silentium
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Silentium » 31.01.2005, 20:52

Hm...irgendwie ist das genau die Art von Aufmunterung, die man nach einem lästigen Deutschlehrer braucht...


Warum hast Du diese Form gewählt? Warum kein kurzer Prosatext?

Ich hab auch eine Prosaversion davon, die ich aber nicht mag. Funktioniert genau so wenig wie die Reime.

Wie bist Du mit der rhythmischen Gestaltung umgegangen?

Hm. Hm. Hm. Ich hab irgendwie abgehakt, wenn ich das gefühl hatte, damit die Bedeutung ein bissl zu ändern, glaub ich.
Ich wollt verhindern, dass es ganz glatt fließt, weil mir das nicht hineingepasst hätte. Teilweise auch irgendwie... Bedeutungsbrocken...
Das man zum Beispiel das "und für dich" zuerst einmal auch auf die oberen zwei zeilen beziehen kann.
Ich hab drauf verzichtet, irgendwo Betonungen zu zählen, damit ich nicht wieder ein mein Reimschema fall. Stört da leicht wo was?

* Warum hast Du auf Möglichkeiten der Verknappung, Verdichtung, Kürzung verzichtet?

Ich weiß zwar, das ich eigentlich kürzen und verdichten sollte, aber... ich wusste irgendwo nicht, wo. Die Geschichte ist echt und ich hab keine Ahnung, welchen teil ich weglassen kann, ohne was davon zu verlieren, wie Mama und die Amsel sich benommen haben. Vorschläge?
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 06.02.2005, 14:54

Puh, das mit dem Verdichten und Verknappen ist - denke ich - eine Standardmerkmal Dichtung, aber keineswegs obligatorisch.

Silentiums Gedicht kann als prosimetrische Elegie verstanden werden.

P.S. Gernhardt hat etwas sehr Interessantes hier versucht: Tod und Sterben in einem zunächst heiter und gelassen wirkenden Ton mit Reimen der Distanzierung des Ichs. Spannend, wie dieses Ich und sein Bewusstsein agiert und inweiweit sich der Leser in diesem Ich wiedererkennt.

Robert Gernhardt

EIN GLÜCK

Wie hilflos der Spatz auf der Straße liegt.

Er hat soeben was abgekriegt.

Da hebt das den Kopf, was erledigt schien.

Könnten Spatzen schreien, der hätte geschrien.

Der hätte gebettelt: Erlöse mich.

Der Erlöser wäre im Zweifelsfall ich.

Ist sonst niemand da, die Straße ist leer,

der Wind weht leicht, und der Spatz macht´s mir schwer.

Wen leiden zu sehn, ist nicht angenehm.

Wenn wer sterben will, ist das sein Problem.

So red ich mir zu und geh rascher voran.

Ein Glück, daß ein Spatz nicht schreien kann.
aes
(auf!eulen schwingen)

Das Lyrische Glied
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Re: Diskussion mit einer Amsel

Beitragvon Das Lyrische Glied » 07.02.2005, 03:43

Ich breche Amseln die Genicke.
Tausenden am Tag.
Das geht schnell,
Ich bin professionell;
(Wenn man seine Profession so mag!)
Die kleinen Tiere quieken immer
So scheußlich!
Wie macht mich das an,
Wie macht mich das schön!

Die Tiere sind noch kerngesund;
Ich nehm' die Leiber in den Mund;
Dann lege ich meinen Kopf in den Nacken,
Dreh ihren Kopf bis die Hälslein knacken
Und freu mich wenn die Amseln sterben.

Ich werf' die Vögel auf den Müll.
Sie sind danach ja nichts mehr wert!
(Vorher auch nicht,
aber da fliegen sie noch)
Nur manche schaffen's auf den Grill.
Jetzt, im Winter, auf den Herd.
Das Lyrische Glied


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