.Sonett .die Glassängerin

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Silentium
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Silentium » 18.05.2005, 17:18

das Gedicht ist auch ohne Mythologie lesbar


Ähm, ja... da fängt für mein Leseverständnis zumindest das Problem an. Ich kenne den Orpheusmythos an und für sich schon brauchbar, hab also davon ausgehend zu interpretieren versucht.

Das hat dann aber so ausgesehen, dass die Rollen vertauscht sind. Orpheus schweigt, Eurydike singt und besänftigt die Schlange, die sie sonst töten würde, genau so, wie ansonsten ihr Gatte die wilden Tiere gezähmt hätte. Die Steine, die sich sonst um ihn geschart haben, um ihn singen zu hören, weichen. Weiß der Himmel keine Antwort auf diese verdrehten Geschlechterverhältnisse?

.der Boden trägt .ihre Schritte
.in leisen Folgen .

Und wieder die Verdrehung. Sie hat die Schlange besänftigt und ist nicht gestorben, also kann man ihre Schritte hören. Das blaue Haus sagt mir nichts (von Frida Kahlo mal abgesehen)... einzig vielleicht, dass der Himmel manchmal mit "blaues Haus" umschrieben wird. In der Unterwelt ist sie nicht, das war klar, aber ist sie jetzt tot und im Himmel gelandet? Nö, weil die Griechen keine solche Himmelsvorstellung haben, demnach wäre also das blaue Haus das vergnügliche Diesseits?

Es geht der Orpheus davon und niemand sieht Eurydice in ihrem eigenen Rücken. Hmhmhm. Zuerst wieder die verkehrung, dass es nicht E., sondern O. ist, durch dessen Weggang resp. Ableben die heile Welt bröselt. Warums sieht man aber dann nicht ihn nicht (welch grammatikalisches Unding), sondern E.?
Genau hier spießt's sich für mich und ich versteh's nicht. Und ohne den mythologischen Hintergrund könnt ich, glaub ich, nicht einmal wild herumraten, wie ich's jetzt getan habe, weil der Text selbst außer den mythologischen Anspielungen kaum was hergibt. Für mich zumindest. Von daher glaub ich eher nicht, dass das Gedicht ohne Mythologie lesbar ist?
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Glaukos
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Glaukos » 18.05.2005, 17:59

Hallo Stille,

das sind sehr interessante Anmerkungen. Ein paar haben das Gedicht für mich selbst noch "weiter gemacht".

Zwei kleine Anspielungen will ich doch noch verraten.

".der Himmel weiß .keine Antwort"

das spielt durch die Interpunktion damit, dass auch der Himmel weiß sein kann. Somit habe ich eine Doppeldeutigkeit untergebracht.
Ebenso hier:

".die Steine zu seinen Füßen weichen"

weichen muss nicht zurückweichen bedeuten, sie können auch erweichen, weich werden.


Die Mythologie ist natürlich wichtig, aber nicht unverzichtbar. Es ist hierbei, denk ich, genauso wie mit dem "blauen Haus". Ja, mit Frida Kahlo bist du auf einer sehr interessanten Spur. Die Doppelbedeutung ist hier erneut beabsichtigt ... ein nicht-Kahlo-Kenner aber nimmt das Haus eben als Himmelshaus wahr oder denkt tatsächlich an ein blaues Haus. Warum auch nicht?



Zum Schlussabsatz schreib ich mal lieber nichts Konkretes. Nur das vielleicht: Ich mags, beim Dichten etwas über mich kommen lassen. Ich habe an dem Gedicht sehr lange gebastelt und immer wieder Worte um Worte herumgeschoben wie auf einem Verschiebebahnhof ... irgendwann aber stand es so da wie jetzt - und schien fertig zu sein. Irgendetwas daran war beim eigenen Lesen stärker als mein Wille, es selbst bis ins Detail zu durchdringen. Gewissermaßen habe ich vor dem Schlussvers selbst kapituliert. Er war stärker als ich selbst, stärker als das, was eigentlich Wunsch in mir ist, den eigenen Text völlig zu beherrschen. Wenn ich vom blauen Haus schreibe, dann beherrsche ich die Worte, mein ich, beherrsche ich die Doppel- oder Dreifachdeutigkeit. Den Schluss beherrsche ich nicht, und will es nicht. Warum nicht? Weil es mir scheint, als sei es der Vers selbst, der diese Wendung verlangt.
So, nun kann man über mich herfallen und sagen,

a) ich sei ein Stümper oder Träumer
b) ich glaubte an die Inspiration und stellte hier Verse nur ein, von denen ich glaubte, sie seien perfekt (ist nicht so, denn ich überlege gerade, das MEHR in der letzten Zeile zu streichen)
c) ich habe mir nicht genug Mühe gegeben
d) ich fasele etwas zusammen wie ein freudianischer frei Assoziierender, der dann erwartet, dass andere es ihm erklären


Nein, ich denke, dass das nicht eindeutig Festlegbare an diesem Gedicht sozusagen eine gedichtimmanente Bedingung ist.

Vielleicht kennst du, kennt ihr das Gefühl: Dass mancher Text weiter zu sein scheint als man selbst (so, wie es in Träumen oft ist, das Geträumte ist eine Art Vorausverkündung). So in etwa ist es auch hier ...

Beste Grüße
Tolya

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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Fitnat » 18.05.2005, 21:11

Vielleicht kennst du, kennt ihr das Gefühl: Dass mancher Text weiter zu sein scheint als man selbst (so, wie es in Träumen oft ist, das Geträumte ist eine Art Vorausverkündung). So in etwa ist es auch hier ...




Ja, ich kenn das Gefühl :-)

Dein Gedicht ist Erstklassig ...

Tolya :thanx:
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denke ich, "Du Armer Poet, bist schon wieder auf dem Boden!"

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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Hilbi » 18.05.2005, 21:38

immer ist alles erstklassig, mit verlaub, das Rilke Gedicht ist erstklassig und es ist der Masstab.
Wenn der Himmel so blau ist, warum wird es dann finster?

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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon razorback » 18.05.2005, 22:58

Na Hurraaaa! Hat ja auch lange genug gedauert, bis das hier auch anfängt!
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Hilbi » 18.05.2005, 23:39

na nu? was denn anfängt? Ich sage doch nur wies mir geht, selbst wenn ich"man" oder so sachen schreibe.
Wenn der Himmel so blau ist, warum wird es dann finster?

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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon razorback » 18.05.2005, 23:55

Ich meinte, das jemand bestimmt, was der Massstab ist. ;-)
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Hilbi » 19.05.2005, 00:08

na gut dann probiere ichs mal mit hoffentlich konstruktiver kritik,
denn einfach zu sagen, ätsch rilkes
gedicht lauert an allen ecken, ist
wohl tatsächlich unfair, ist ja auch
gemeingefährlich was der typ abgeliefert hat.


.Eurydice singt
.die Schlangen zu ihren Füßen tanzen
.der Himmel weiß .keine Antwort
.vorm Altar der Wolken


(wenn Du die letzte Zeile löschen würdest
würden mir* die Zeilen gefallen, les sie doch mal
mit drei strophen und dann mit vier....ich hab übrigens keine ahnung was so eine sonette gesetzesmäßig fordert...aber trotzdem)

.schweigt Orpheus
.die Steine zu seinen Füßen weichen
.der Boden trägt .ihre Schritte
.in leisen Folgen .durchs blaue Haus

(da schlangen dort steine, dabei ist sie doch zu einer steinsäule erstarrt oder zu einem eisblock, wer kann es schon
wissen, nicht mal rilke...aber rilke würde es sehen, irgendwie)

.ausschreitend .weithin .Orpheus
.und ganz ohne Lied .landeinwärts
.blüht diese Stunde dem Glück

(von welchem glück redest du?
zu dieser stunde ist er doch unterwegs
sie aus der hölle zu holen, oder aus dem jenseits, jedenfalls sie wieder rein zu holen in diese unsere welt und das klappt ja nicht)

.und welkte .gestern schon
.im Rücken der Glassängerin
.kann niemand mehr Eurydice sehn

(hm.....das gedicht heißt ja die glassängerin, aber warum, wo ist sie und was spielt sie für eine rolle???)


mit einem Wort, ich mache es mir zu leicht dieses Gedicht einfach zu deskreditieren (was für ein feines Wort, ich möchte mit diesem Wort spazieren gehen, hab ichs überhaupt richtig geschrieben) die einzige Frage die sich jemand stellen sollte wenn er ein Gedicht schreibt ist,
muss ich das schreiben?
Naturgemäß klingt dies arg streng, aber streng mit sich selber sein ist nicht das schlechteste.
man kann streng sein und über seine strenge lachen...
also... ich glaube nicht dass dies Gedicht geschrieben werden musste, aber vielleicht musstest Du es schreiben damit Du eins schreibt das wirklich nah ist und augen und farben hat und leicht ist und kleinlaut und im hier spielt, im jetzt und nicht im damals, damals das ist schon so lange her...



* hier spricht der egoist, als hättest Du das Gedicht für mich geschrieben :-)
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Hilbi » 19.05.2005, 00:09

Das kann keiner bestimmt das stimmt, das war bescheuert.
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Hilbi » 19.05.2005, 00:10

wird massstab wirklich mit drei "s" geschrieben? so eine verschwendung
Wenn der Himmel so blau ist, warum wird es dann finster?

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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Glaukos » 19.05.2005, 03:13

Lieber Hilbi,

wenn ich mich an Rilke wirklich messen würde, würde ich kein einziges Wort mehr SPRECHEN respektive SCHREIBEN.

Aber DU auch nicht.

Es ist wirklich ehrenvoll, an ihm gemessen zu werden, es ist auch noch immer verzeihlich, an ihn nicht heranzureichen. Ich meine, in diesem ganzen Forum gibts höchstens zwei, drei Gedichte, die - vielleicht - einem rilkeschen Anspruch genügen würden (wenngleich dieser Herr natürlich auch nicht alleiniger Maßstab sein darf) ... dann könntest du das Forum hier zumachen.

Danke für deine hilfreiche Detailkritik, auch wenn sie poetisch-polemisch daherkommt. Ich mags, wenn jemand geradean ist. Auch Polemik zeigt ja auf, wo etwas hakt oder haken könnte. Merci, Monsieur!

Apropos Glassängerin.
Womöglich kann man in Eurydice selbst die Glassängerin erkennen?


... mhm, ich spekuliere soeben, ob ich die letzte Zeile umändere von:

.kann niemand mehr Eurydice sehn

in

.kann Eurydice niemand sehn


Wäre eine Vereinfachung des gewiss komplexen Bildes.


Grüße, Tolya



P.S.: Danke, Fitnat. Es ist ein Gefühl, von dem es nicht leicht ist zu schreiben. Eigentlich ist es ja selbstverständlich ... aber, wie bei vielen Gefühlen, ists irgendwie peinlich doch ;)

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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Glaukos » 19.05.2005, 03:24

wird massstab wirklich mit drei "s" geschrieben? so eine verschwendung


Maßstab - neue und alte Rechtschreibung. Es sei denn, du hebst ab auf Masse. Massenstab wäre dann Massstab. ;-)

Hilbi
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Re: .Sonett .die Glassängerin

Beitragvon Hilbi » 19.05.2005, 07:07

was für ein Glück...ich meine den Maßstab, ich meine dass es mit drei "s" geschrieben wird.
Übrigens was ist so schlimm daran sich an
den grossen Dichtern zu messen?
Natürlich ist jedes Gedicht ein scheitern, aber wie Beckett schon sagt, "immer besser scheitern".
Welche drei Gedichte meinst Du? Ist eins von mir dabei? Ohhjjjjjeeee es ist keins von mir dabei :-)
Wenn der Himmel so blau ist, warum wird es dann finster?


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