Chiron, willkommen bei O livro.
Ich zähle mich hier nicht zu den Lyrikexperten, aber wenn schon mal jemand Neues vorbeischaut, sollte man den auch besprechen, finde ich (das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, Folks

).
Zu dem Gedicht:
Das Thema ist nicht neu, was keine Kritik ist. Es gibt ja sowieso keine neuen Themen, von daher ist es vielleicht sogar mutig, ein recht oft behandeltes Thema so offen anzugehen.
Allerdings gehst Du es vielleicht zu offen an - Du sprichst sehr viel aus, da bleibt nicht viel Platz für Zwischentöne. Und Deine Wortwahl ist manchmal ein wenig zu bombastisch. Das nimmt dem Gedicht ein wenig die Authentizität, die es ja doch scheinbar haben soll.
In dieser Nacht lebte ich ein Leben
Als hätte es nie zuvor
Zärtlichkeit gegeben.
Das für eine (erste) Nacht? Na ja...
Mal ganz abgesehen davon, ob "Zärtlichkeit" hier das richtige Wort ist - Du bekommst ein Problem mit dem Erfahrungshorizont des LI. Wenn der klein sein sollte, ist diese Wortwahl bis ins (wohl unfreiwillig) Komische übertrieben. Sollte er nicht klein sein, stört die Lakonik (eigentlich bin ich sehr für Lakonik, aber sie sollte etwas Abschließendes haben). Da möchte ich dann schon wissen, warum diese Nacht so besonders war.
Vorsicht mit Bombast, Du gräbst Dir da selbst Fallen, die nicht nötig sind.
Zu Stil und Sprache:
Ich bin kein großer Freund des Reimes, aber das ist subjektiv und kein Maßstab. Reime sind an sich wohl nichts Schlechtes. Problematischer ist, dass Du innerhalb des Gedichtes mehrmals das Reimschema wechselst, ohne, dass da irgendein Konzept zu entdecken wäre (ich jedenfalls entdecke keins). Ausserdem fällst Du mehrfach aus dem Versmaß.
Dazu kommt die Grammatik:
Das
verbarg das Gesicht
des Morgens danach
ist zwar völlig korrekt, dennoch liest sich so ein Genitiv alleine immer sehr sperrig. Ich weiß nicht, ob Du Dir Deine Gedichte laut vorliest. Wenn nicht: Probier es mal aus. Du wirst merken, was ich meine.
Und das
Berührungen auf glühend feuchte Haut
müsste "feuchter" heissen.
Zurück zum Inhaltlichen:
Vorsicht mit Metaphern!
Berührungen auf glühend feuchter Haut
Das soll, denke ich, ein sehr erotisches Bild sein. Ich höre es aber vor meinem geistigen Ohr nur dauernd zischen - dass passiert nämlich, wenn man Feuchtigkeit und Glut verbindet. Es ist schon anerkennenswert, dass Du die erzschwülstige "heisse, feuchte Haut" vermieden hast, aber Du bist da bei einer schiefen Metapher gelandet, die Du nochmal überdenken solltest.
Ausserdem habe ich ein Problem mit der inneren Logik der kleinen Geschichte, die Du da erzählst:
Die Nacht in der du zu mir kamst
Als Spiel und Spaß war es gedacht
Gefühle, Sehnsüchte einfach so erwacht.
Seelen verbindend, so nah, so vertraut.
Als der Zauber der Sinne zerbrach,
nun bin ich alleine,
in Gefühlen gefangen.
Zuerst ganz offensichtlich - was passt nicht in diese Reihe? Genau:
Seelen verbindend, so nah, so vertraut.
Du erzählst hier die Geschichte der Begegnung zweier offensichtlich nicht sehr vertrauter Menschen. Die kennen sich nicht, oder nicht gut. Und dann sind sie sich plötzlich vertraut? Nah, gut, das geht. Aber woher soll die Vertrautheit kommen?
Und dann erliegt Dein LI ganz offenbar einem Missverständnis. Ich weiß aber nicht, ob Du das in dem Gedicht herausstellen wolltest, oder ob das eine Panne war. Denn beim LI erwachen ganz deutlich Gefühle und Sehnsüchte, bei dem/der Angesprochenen aber nicht. Daher sprichst Du auch ganz folgerichtig davon, dass der Zauber der Sinne zerbricht. Das LI bleibt alleine in Gefühlen zurück, die das angesprochene Du ganz offenbar nicht teilt. Soweit so logisch, bekannt und nachvollziehbar. Aber dann ist das ja wohl der zentrale Irrtum des LI:
Seelen verbindend, so nah, so vertraut.
Garnichts ist da verbunden. Das LI glaubt das zwar, aber der Morgen danach erweist ja genau das Gegenteil. Dadurch, dass Dein LI das offensichtlich nicht bemerkt, denunzierst Du es ein wenig. Das muss nicht sein.
Wie Du siehst, habe ich viel an Deinem Gedicht herumzumosern. Ich hoffe, das schreckt Dich nicht ab.

Und wie gesagt - ich verstehe eh nichts von Lyrik.
