Das Geheimnis des Schreibens
Verfasst: 07.05.2003, 16:32
Endlich hatte er die Praxis gefunden. Auf dem Schild prangte in großen Lettern: Dr. Harald Pudermich – Psychotherapie / Sexualtherapeut. Jens atmete auf. Stundelang war er durch die Stadt geirrt und hatte mit sich gerungen, einen Fachmann zu konsultieren. Nun stand er vor dem Haus. Er zögerte noch einen kurzen Augenblick, bevor er klingelte. Eine Minute später stand er einem kleinen, nickelbebrillten Mann von asketischer Gestalt gegenüber.
„Sie wünschen?“ Die Fistelstimme des schmächtigen Mannes klang direkt und bestimmt. „Hatten wir einen Termin?“
„Ja. Ich habe heute morgen bei Ihnen angerufen. Mein Name ist Jens....“
„Ach ja, ich weiß Bescheid. Treten sie ein. Gehen Sie einfach geradeaus durch. Die letzte Tür links. Sie sehen es dann schon.“
Jens murmelte ein zaghaftes „danke schön“, schlurfte durch den schlauchähnlichen, düsteren Gang und betrat unsicher das Zimmer. Genau so hatte er sich immer die Praxis eines Therapeuten vorgestellt. Bücher über Bücher, in den Regalen, auf dem Boden, auf dem Tisch. Flickenteppich und einfaches Mobiliar komplettierten das Bild. Vor dem Fenster stand ein zierlicher Schreibtisch mit zwei Stühlen. Außerdem ein bequemer Lehnsessel, - wie konnte es anders sein -, direkt neben der unvermeidlichen Couch. Auf die würde er sich keinesfalls legen. Er käme sich dabei lächerlich vor. Schließlich hatte er keine Macke oder so etwas.
„Bitte nehmen sie Platz,“ hörte er Dr. Pudermich sagen. Der Therapeut ließ sich auf dem Sessel nieder, rückte seine Brille zurecht und starrte Jens durch die dicken Gläser an. Seine Augen wirkten unnatürlich groß. Wie ein Uhu sieht er aus, dachte Jens und setzte sich auf den Stuhl. Er fühlte sich ausgesprochen unwohl, fühlte sich auf eine unangenehme Weise durchschaut.
„Waren sie schon einmal in Therapie?“
„Nein,“ antwortete er, schlug die Beine übereinander und nahm seine Sonnebrille ab.
„Können sie sich etwas darunter vorstellen?“
„Nicht so genau. Ich denke, sie werden mir bei meinem kleinen Problem helfen. Es ist ja eigentlich nichts Schlimmes, weswegen ich ihren Rat brauche.“
„Nun ja, dafür sind Therapeuten da, nicht wahr?“ Pudermich deutete ein Lächeln an und fuhr fort. „Zunächst werde ich eine Anamnese durchführen, danach stelle ich die Diagnose und im Anschluss erfolgt die Therapie.“
„Anemese?“
„Das Wort heißt Anamnese und bedeutete soviel wie Vorgeschichte einer Krankheit. Zu deutsch: erzählen sie einfach, was sie bedrückt.“
Jens dachte nach. Er wusste nicht genau, wie er beginnen sollte. Außerdem war es ihm peinlich, so plötzlich sein Inneres vor jemanden auszubreiten, den er nicht kannte. Er suchte nach einem unverfänglichen Anfang. Vorhin auf der Treppe hatte er noch genau gewusst, was er sagen würde, aber jetzt hatte er irgendwie eine Luftblase im Hirn.
„Fangen sie einfach an, Jens. Ich darf sie doch so nennen?“
„Klar. Kein Problem.“
„Nun?“ Dr. Pudermich fixierte ihn durchdringend.
„Also, es ist so. Ich bin irgendwie abhängig vom Internet. Verstehen sie, ich komme einfach nicht davon los. Manchmal esse ich stundenlang nichts, rauche wie ein Schlot und kann mich nicht losreißen.“
„Hmm. Und wie äußert sich das? Will sagen, wie spielt sich das genau ab?“
„Wie soll ich das erklären? Ich brauch’s einfach. Morgens, wenn ich aufwache, ist das erste, woran ich denke mein Computer. Ich kriege sofort so ein Kribbeln. Ich koche mir einen Kaffee, dann schalte ich meinen Rechner an und rufe das Internet auf. Wenn ich erst einmal vor dem Bildschirm sitze....“ Jens ließ den Satz offen.
„Aha. Und was machen sie im Internet?“ Pudermichs Miene verriet keinerlei Regung. Die Fistelstimme schien völlig emotionslos zu sein. Der fragt wie ein Automat, dachte Jens frustriert und versuchte sich zu konzentrieren.
„Zuerst gehe ich in das Single.de und schaue ob Post für mich gekommen ist.“
„Was ist Single.de? Ich kenne mich nicht so genau aus.“
„Na ja, so eine Flirtline. Man kann dort Leute kennen lernen und nette Bekanntschaften machen. Ich kommiziere mit Freunden.“
„Kommunizieren!“
„Sag ich doch.“
„Verstehe. Und wie lange halten sie sich täglich im Netz auf?“
„So 8 bis 10 Stunden, manchmal auch länger. Je nach dem. Ich muss ja auch schreiben! Das bindet unheimlich viel Zeit, wissen sie! Die vielen Frauen im Single.de erwarten von mir eine Antwort.“
„Langsam, langsam, nicht so schnell Jens. Eines nach dem Anderen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann suchen sie täglich 8 bis 10 Stunden nach einer Partnerin in einer Flirtline? Ist das nicht sehr ermüdend?“
„Nein. Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich schreibe interessante Artikel und setze sie ins Dissuktionsforum. Danach beantworte ich die Kommentare meiner treuen Leserschaft. Es macht mich unheimlich an, wenn viele Interesse an meinen Gedanken zeigen.“
„Was bedeutet Dissuktion?“ Pudermich schien ein wenig verwirrt zu sein.
„Na ja, das ist so eine Art Chat. Da kann man sich austauschen. Halt reden miteinander. Was war das nur für ein Psychologe?“
„Aha. Sie meinen Diskussion. Ich verstehe. Trotzdem sollten sie mir das näher erklären. Worin besteht nun das eigentliche Problem?“
Jens wurde warm. Er fühlte, wie sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen bildeten und unangenehm kitzelten. Vielleicht sollte er das Gespräch einfach abbrechen und wieder nach Hause gehen. Und während ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, hörte er Pudermich sagen: „Sie schreiben also täglich 10 Stunden lang Artikel und beantworten die Zuschriften. Leben sie davon?“
„Nein.“
Die Fragen des Therapeuten zogen sich wie eine Schlinge immer enger um seinen Hals und er bedauerte, auf die idiotische Idee gekommen zu sein, ausgerechnet zu einem Seelenklemptner gegangen zu sein. Aber jetzt aufzustehen und zu gehen brachte er nicht fertig. „Ich bin arbeitslos.“ Jetzt war es heraus. „Sagen sie mir doch, was ich machen soll, wenn man den ganzen Tag zu Hause herumsitzt.“ Jens Stimme war mit einem Male aggressiv. „Irgendetwas Sinnvolles muss der Mensch doch tun!“
„Hm.“ Mehr war von Pudermich nicht zu hören. Es folgte für Jens eine quälende Pause, die wohl mehr als fünf Minuten andauerte. Dann seufzte er tief und holte Luft. „Am Anfang war ja noch alles in Ordnung....,“ fuhr Jens nachdenklich fort, wurde aber er wurde von Pudermich unterbrochen.
„Was war in Ordnung?“
„Wenn ich meine Artikel ins Forum gesetzt habe, haben sich die Leute wahnsinnig gefreut. Ich habe irre nette und liebe Zuschriften bekommen. Alle haben sie mich und meine Beiträge geliebt. Ich hatte eine richtige Fan-Gemeinde. Sie müssen wissen, schreiben ist mein Hobby und ich habe echt was auf dem Kasten. Die meisten der Chatter halten mich für eine echte Konifere!“
„Koryphäe! Koniferen sind Nadelbäume, aber das nur nebenbei.“
„Ist ja auch egal. Jedenfalls finden mich die Single-User einfach Klasse.“
„Dann suchen Sie im Forum auf diese Weise Anerkennung? Sie sind, wenn ich das so sagen darf, süchtig nach Zuwendung.“
„Ja..., mein Gott, so ähnlich.... Ich weiß auch nicht so genau.“
„Hm. Und was ist jetzt nicht mehr in Ordnung?“
„Die Leute schimpfen plötzlich. Dabei sind meine Geschichten total genial, und meine Ideen sowieso. Es gibt kaum einen im Internet, der bessere Geschichten schreibt als ich.“
„Und dennoch werden sie plötzlich nicht mehr geliebt? Was sagen sie denn ihre Leser im allgemeinen?“
„Die meisten behaupten, meine Artikel seien schwachsinnig. Ein paar beleidigen mich regelmäßig. Aber das sind alles Idioten, wenn sie mich fragen. Die nehme ich nicht ernst. Können selber kaum einen Satz zu Papier bringen und sind nur neidisch, weil mir immer tolle Sachen einfallen. Arschlöcher sind das, nichts weiter.“
„Kann es sein, dass sie eine zwanghafte Wahrnehmungsverzerrung haben?“
„Eine was...?“
„Wahrnehmungsverzerrung. Das funktioniert so: Wenn sie sich gerade ein neues Auto gekauft haben und fahren durch die Stadt, haben sie das Gefühl, ihnen begegnet andauernd der gleiche Fahrzeugtyp, den sie auch fahren. Objektiv gesehen sind es aber nicht mehr geworden als vorher. Sie glauben nur, alle Welt fährt das gleiche Auto wie sie.“
„Ach so. Und was hat das jetzt mit meiner Schreiberei zu tun?“
„Nichts. Es hat etwas mit zwangsneurotischer Einbildung zu tun. Sie glauben, jeder muss ihre Artikel lieben.“
Wieder entstand eine Pause. Jens fühlte, wie ein bitteres Gefühl in ihm aufstieg. Jetzt nur nicht weinen! Er sah auf. Dr. Pudermich saß regungslos wie eine Schleiereule im Sessel und beobachtete ihn unverwandt.
„Sie sind sehr enttäuscht?“
„Nein. Nicht wirklich. Denen werde ich schon noch zeigen, wo der Bartel den Hammer hat. Ich werde die Deppen im Single.de quälen bis auf Blut. Tag und Nacht werde ich Artikel verfassen. Ich werde diese Deppen ohnmächtig schreiben. Die sollen nicht glauben, sie könnten so mit mir umgehen.
„Sagen sie mir Jens,“ fragte der Therapeut leise. „Haben sie keine Freundin?“
„Freundin?“
Diese Frage hatte er nicht erwartet. Und wenn er ehrlich war, hätte er sich gewünscht, Dr. Pudermich hätte diese Frage nie gestellt.
„Nun?“
Dieses „nun“ hatte eine Eindringlichkeit, der Jens nicht entgehen konnte.
„Nein.“ Er hoffte, dass sein Gegenüber nicht weiter bohren würde und zog ein unbeteiligtes Gesicht, als wolle er sagen: Spielt auch gar keine Rolle.
„Warum nicht? Sie sind doch ein attraktiver, junger Mann. In ihrem Alter weiß man doch normalerweise nicht, wohin mit den Kräften. Eine intakte und harmonische Beziehung trägt sehr zur inneren Stabilität bei.“
Er hatte es geahnt. Jetzt Farbe zu bekennen bedeutete ein Seelenstriptease, den er unbedingt vermeiden musste. Und was bitteschön hatte eine Freundin mit seinem Problem zu tun? „Ich hab eben keine,“ presste er über die Lippen. „Ist das so schlimm?“
„Es ist nicht schlimm, aber auch keine Antwort. Hatten sie noch nie eine Freundin?“
Jetzt war es soweit. Pudermichs Augen verrieten ihm, dass er nicht mehr locker lassen würde. Er musste sich entscheiden. Gehen oder bleiben.
„Nur keine Angst, Jens. Sprechen sie sich aus. Es wird Ihnen helfen.“
Sein Hemd war im Rücken schweißgenässt und er zitterte am ganzen Leib. Konnte er sich dem Psychologen anvertrauen? Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. „Ich bin anders, als andere!“
„Interessant. Aber das sind viele, mein lieber. Schwul sein ist heutzutage etwas völlig Normales.“
„Ich bin nicht schwul,“ brüllte Jens aufgebracht. „Ich war noch nie schwul. Ich war überhaupt noch nichts.“ Er sackte in sich zusammen. Ihm schien es, als ginge die Welt unter. Wäre er doch nie zu diesem idiotischen Termin gegangen. Aber jetzt war es zu spät, denn er hatte sich in den Fallstricken des Therapeuten verheddert.
„Wenn sie nicht schwul sind, dann vielleicht ein Transvestit? Fühlen sie sich wie eine Frau? Ist es das, was sie so aufregt?“
„Nein...!“, knurrte Jens völlig entnervt und sprang auf. Wütend über sich und den kleinen Arzt wanderte er hin und her, zog kleine Kreise im Praxiszimmer und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Er würde mit der Wahrheit herausrücken müssen. Dieser hinterfotzige Psychologe hatte ihn völlig im Griff und er würde seinen Fragen nicht mehr entrinnen können.
„Haben sie vielleicht perverse Neigungen, über die sie nicht sprechen wollen?“
Abrupt blieb er stehen, wandte sich dem Arzt zu und erwiderte tonlos. „Sind sie verrückt geworden?“
„Ich nicht,“ antwortete Pudermich in stoischer Ruhe. „Sind sie vielleicht pädophil? Oder fühlen sie sich zu sehr alten Frauen hingezogen? Nur zu, ich höre ihnen zu. Sie können hier in diesem Raum alles sagen.“
„Nein. Nichts von alle dem.“ Jens kämpfte mit aufkommenden Tränen und wisperte weinerlich: „Ich hab keinen...“ In seiner Miene spielte sich nun ein emotionales Drama ab.
„Sie haben was nicht...? Nur Mut!“
„Keinen Piselmann....,“ brach es aus ihm heraus. Er blickte aufgelöst aus dem Fenster. Tränen standen ihm in den Augen und er knetete vor innerer Aufgewühltheit seine Fäuste, bis die Knöchel weiß wurden.
„Wie soll ich das verstehen, Jens? Piselmann? Was meinen Sie genau...?“, drang es an sein Ohr wie durch eine Nebelbank.
Konnte der Kerl nicht aufhören? Sah er denn nicht, wie unendlich schwer es ihm gefallen war, sein größtes Geheimnis zu lüften? Verstand dieser Depp überhaupt nichts? „Mir ist..., Scheiße....!“ Jens rang wieder nach Worten. „Ich hab keinen Dings. Verstehen sie jetzt?“
„Nein. Jedenfalls nicht genau. Unter Dings kann man viel verstehen. Nennen sie einfach das Dings beim Namen. Sie werden sehen, es tut nicht weh.“
„Keinen Schwanz!“ schrie er verzweifelt. „Keinen Pimmel...!“, wiederholte er mit aller Kraft, als wolle er dem kleinen Mann im Sessel jene Unmöglichkeit in die Ohren hämmern. Die Ungeheuerlichkeit stand wie ein Sakrileg im Raum. Und jetzt, nachdem er es mit aller Kraft heraus geschrieen, schien es ihm wie eine Befreiung. Mit einem Male fühlte er eine merkwürdige Leichtigkeit. Er musste es noch einmal wiederholen! „Ich habe keinen Schwanz! Deswegen brauche ich auch keine Freundin. Was soll ich auch mit ner Frau....?! Ist es das, was Sie wissen wollten?“
„Hm.“ Doktor Pudermich schien kaum beeindruckt zu sein. „Gar keinen?“ fragte er vorsichtig. „Oder ist er ihrer Meinung nach nur ein wenig klein geraten und sie leiden ein klein wenig unter Minderwertigkeitsgefühlen?“
„Gar keinen. Nichts. Absolut gar nichts. Ich habe nur ein verkümmertes Anhängsel zwischen den Beinen.“ Jens Gesichtsfarbe war bleich und er fühlte sich matt und ausgelaugt.
„Unfall?“
„Nein. Kein Unfall. Da war noch nie etwas. Ich bin so auf die Welt gekommen. Die Ärzte meinten bei meiner Geburt, dass irgendetwas mit meinen Genen nicht in Ordnung sei.“
„Hm. Und das ist der Grund, warum sie im Internet Artikel schreiben? Kompensieren sie damit Ihr Sexual-Mangel-Syndrom und suchen sich auf diesem Wege Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung? Sozusagen als Ersatzhandlung?“
„Ja“, antwortete er kleinlaut. „Und jetzt will mich keiner mehr. Dabei gebe ich mir unendlich viel Mühe, die Chat-Gemeinde zu unterhalten. Aber anstatt sich zu freuen, bekomme in letzter Zeit nur noch Beschimpfungen und hämische Bemerkungen. Die Handvoll Leute, die mich noch mögen, sind Mädels. Aber was soll ich mit denen? Schreiben ist doch das Einzige, was ich habe!“
„Verstehe,“ antwortete Dr. Pudermich. „Es ist in der Tat ein größeres Problem, als ich ursprünglich angenommen hatte. Wenn sie meinen Rat wollen, Jens, dann versuchen sie darüber hinweg zu kommen. Sie sollten vielleicht Gedichte schreiben, etwas Lyrisches. Vielleicht mögen das ihre Leser. Oder kaufen sie sich einen Porsche. Wenn sie sich ein solches Auto nicht leisten können, empfehle ich ihnen auszuwandern. Alaska soll ein gesundes Klima haben. Dort ist es so kalt, da merken sie gar nicht, dass sie keinen haben....“
„Sie wünschen?“ Die Fistelstimme des schmächtigen Mannes klang direkt und bestimmt. „Hatten wir einen Termin?“
„Ja. Ich habe heute morgen bei Ihnen angerufen. Mein Name ist Jens....“
„Ach ja, ich weiß Bescheid. Treten sie ein. Gehen Sie einfach geradeaus durch. Die letzte Tür links. Sie sehen es dann schon.“
Jens murmelte ein zaghaftes „danke schön“, schlurfte durch den schlauchähnlichen, düsteren Gang und betrat unsicher das Zimmer. Genau so hatte er sich immer die Praxis eines Therapeuten vorgestellt. Bücher über Bücher, in den Regalen, auf dem Boden, auf dem Tisch. Flickenteppich und einfaches Mobiliar komplettierten das Bild. Vor dem Fenster stand ein zierlicher Schreibtisch mit zwei Stühlen. Außerdem ein bequemer Lehnsessel, - wie konnte es anders sein -, direkt neben der unvermeidlichen Couch. Auf die würde er sich keinesfalls legen. Er käme sich dabei lächerlich vor. Schließlich hatte er keine Macke oder so etwas.
„Bitte nehmen sie Platz,“ hörte er Dr. Pudermich sagen. Der Therapeut ließ sich auf dem Sessel nieder, rückte seine Brille zurecht und starrte Jens durch die dicken Gläser an. Seine Augen wirkten unnatürlich groß. Wie ein Uhu sieht er aus, dachte Jens und setzte sich auf den Stuhl. Er fühlte sich ausgesprochen unwohl, fühlte sich auf eine unangenehme Weise durchschaut.
„Waren sie schon einmal in Therapie?“
„Nein,“ antwortete er, schlug die Beine übereinander und nahm seine Sonnebrille ab.
„Können sie sich etwas darunter vorstellen?“
„Nicht so genau. Ich denke, sie werden mir bei meinem kleinen Problem helfen. Es ist ja eigentlich nichts Schlimmes, weswegen ich ihren Rat brauche.“
„Nun ja, dafür sind Therapeuten da, nicht wahr?“ Pudermich deutete ein Lächeln an und fuhr fort. „Zunächst werde ich eine Anamnese durchführen, danach stelle ich die Diagnose und im Anschluss erfolgt die Therapie.“
„Anemese?“
„Das Wort heißt Anamnese und bedeutete soviel wie Vorgeschichte einer Krankheit. Zu deutsch: erzählen sie einfach, was sie bedrückt.“
Jens dachte nach. Er wusste nicht genau, wie er beginnen sollte. Außerdem war es ihm peinlich, so plötzlich sein Inneres vor jemanden auszubreiten, den er nicht kannte. Er suchte nach einem unverfänglichen Anfang. Vorhin auf der Treppe hatte er noch genau gewusst, was er sagen würde, aber jetzt hatte er irgendwie eine Luftblase im Hirn.
„Fangen sie einfach an, Jens. Ich darf sie doch so nennen?“
„Klar. Kein Problem.“
„Nun?“ Dr. Pudermich fixierte ihn durchdringend.
„Also, es ist so. Ich bin irgendwie abhängig vom Internet. Verstehen sie, ich komme einfach nicht davon los. Manchmal esse ich stundenlang nichts, rauche wie ein Schlot und kann mich nicht losreißen.“
„Hmm. Und wie äußert sich das? Will sagen, wie spielt sich das genau ab?“
„Wie soll ich das erklären? Ich brauch’s einfach. Morgens, wenn ich aufwache, ist das erste, woran ich denke mein Computer. Ich kriege sofort so ein Kribbeln. Ich koche mir einen Kaffee, dann schalte ich meinen Rechner an und rufe das Internet auf. Wenn ich erst einmal vor dem Bildschirm sitze....“ Jens ließ den Satz offen.
„Aha. Und was machen sie im Internet?“ Pudermichs Miene verriet keinerlei Regung. Die Fistelstimme schien völlig emotionslos zu sein. Der fragt wie ein Automat, dachte Jens frustriert und versuchte sich zu konzentrieren.
„Zuerst gehe ich in das Single.de und schaue ob Post für mich gekommen ist.“
„Was ist Single.de? Ich kenne mich nicht so genau aus.“
„Na ja, so eine Flirtline. Man kann dort Leute kennen lernen und nette Bekanntschaften machen. Ich kommiziere mit Freunden.“
„Kommunizieren!“
„Sag ich doch.“
„Verstehe. Und wie lange halten sie sich täglich im Netz auf?“
„So 8 bis 10 Stunden, manchmal auch länger. Je nach dem. Ich muss ja auch schreiben! Das bindet unheimlich viel Zeit, wissen sie! Die vielen Frauen im Single.de erwarten von mir eine Antwort.“
„Langsam, langsam, nicht so schnell Jens. Eines nach dem Anderen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann suchen sie täglich 8 bis 10 Stunden nach einer Partnerin in einer Flirtline? Ist das nicht sehr ermüdend?“
„Nein. Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich schreibe interessante Artikel und setze sie ins Dissuktionsforum. Danach beantworte ich die Kommentare meiner treuen Leserschaft. Es macht mich unheimlich an, wenn viele Interesse an meinen Gedanken zeigen.“
„Was bedeutet Dissuktion?“ Pudermich schien ein wenig verwirrt zu sein.
„Na ja, das ist so eine Art Chat. Da kann man sich austauschen. Halt reden miteinander. Was war das nur für ein Psychologe?“
„Aha. Sie meinen Diskussion. Ich verstehe. Trotzdem sollten sie mir das näher erklären. Worin besteht nun das eigentliche Problem?“
Jens wurde warm. Er fühlte, wie sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen bildeten und unangenehm kitzelten. Vielleicht sollte er das Gespräch einfach abbrechen und wieder nach Hause gehen. Und während ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, hörte er Pudermich sagen: „Sie schreiben also täglich 10 Stunden lang Artikel und beantworten die Zuschriften. Leben sie davon?“
„Nein.“
Die Fragen des Therapeuten zogen sich wie eine Schlinge immer enger um seinen Hals und er bedauerte, auf die idiotische Idee gekommen zu sein, ausgerechnet zu einem Seelenklemptner gegangen zu sein. Aber jetzt aufzustehen und zu gehen brachte er nicht fertig. „Ich bin arbeitslos.“ Jetzt war es heraus. „Sagen sie mir doch, was ich machen soll, wenn man den ganzen Tag zu Hause herumsitzt.“ Jens Stimme war mit einem Male aggressiv. „Irgendetwas Sinnvolles muss der Mensch doch tun!“
„Hm.“ Mehr war von Pudermich nicht zu hören. Es folgte für Jens eine quälende Pause, die wohl mehr als fünf Minuten andauerte. Dann seufzte er tief und holte Luft. „Am Anfang war ja noch alles in Ordnung....,“ fuhr Jens nachdenklich fort, wurde aber er wurde von Pudermich unterbrochen.
„Was war in Ordnung?“
„Wenn ich meine Artikel ins Forum gesetzt habe, haben sich die Leute wahnsinnig gefreut. Ich habe irre nette und liebe Zuschriften bekommen. Alle haben sie mich und meine Beiträge geliebt. Ich hatte eine richtige Fan-Gemeinde. Sie müssen wissen, schreiben ist mein Hobby und ich habe echt was auf dem Kasten. Die meisten der Chatter halten mich für eine echte Konifere!“
„Koryphäe! Koniferen sind Nadelbäume, aber das nur nebenbei.“
„Ist ja auch egal. Jedenfalls finden mich die Single-User einfach Klasse.“
„Dann suchen Sie im Forum auf diese Weise Anerkennung? Sie sind, wenn ich das so sagen darf, süchtig nach Zuwendung.“
„Ja..., mein Gott, so ähnlich.... Ich weiß auch nicht so genau.“
„Hm. Und was ist jetzt nicht mehr in Ordnung?“
„Die Leute schimpfen plötzlich. Dabei sind meine Geschichten total genial, und meine Ideen sowieso. Es gibt kaum einen im Internet, der bessere Geschichten schreibt als ich.“
„Und dennoch werden sie plötzlich nicht mehr geliebt? Was sagen sie denn ihre Leser im allgemeinen?“
„Die meisten behaupten, meine Artikel seien schwachsinnig. Ein paar beleidigen mich regelmäßig. Aber das sind alles Idioten, wenn sie mich fragen. Die nehme ich nicht ernst. Können selber kaum einen Satz zu Papier bringen und sind nur neidisch, weil mir immer tolle Sachen einfallen. Arschlöcher sind das, nichts weiter.“
„Kann es sein, dass sie eine zwanghafte Wahrnehmungsverzerrung haben?“
„Eine was...?“
„Wahrnehmungsverzerrung. Das funktioniert so: Wenn sie sich gerade ein neues Auto gekauft haben und fahren durch die Stadt, haben sie das Gefühl, ihnen begegnet andauernd der gleiche Fahrzeugtyp, den sie auch fahren. Objektiv gesehen sind es aber nicht mehr geworden als vorher. Sie glauben nur, alle Welt fährt das gleiche Auto wie sie.“
„Ach so. Und was hat das jetzt mit meiner Schreiberei zu tun?“
„Nichts. Es hat etwas mit zwangsneurotischer Einbildung zu tun. Sie glauben, jeder muss ihre Artikel lieben.“
Wieder entstand eine Pause. Jens fühlte, wie ein bitteres Gefühl in ihm aufstieg. Jetzt nur nicht weinen! Er sah auf. Dr. Pudermich saß regungslos wie eine Schleiereule im Sessel und beobachtete ihn unverwandt.
„Sie sind sehr enttäuscht?“
„Nein. Nicht wirklich. Denen werde ich schon noch zeigen, wo der Bartel den Hammer hat. Ich werde die Deppen im Single.de quälen bis auf Blut. Tag und Nacht werde ich Artikel verfassen. Ich werde diese Deppen ohnmächtig schreiben. Die sollen nicht glauben, sie könnten so mit mir umgehen.
„Sagen sie mir Jens,“ fragte der Therapeut leise. „Haben sie keine Freundin?“
„Freundin?“
Diese Frage hatte er nicht erwartet. Und wenn er ehrlich war, hätte er sich gewünscht, Dr. Pudermich hätte diese Frage nie gestellt.
„Nun?“
Dieses „nun“ hatte eine Eindringlichkeit, der Jens nicht entgehen konnte.
„Nein.“ Er hoffte, dass sein Gegenüber nicht weiter bohren würde und zog ein unbeteiligtes Gesicht, als wolle er sagen: Spielt auch gar keine Rolle.
„Warum nicht? Sie sind doch ein attraktiver, junger Mann. In ihrem Alter weiß man doch normalerweise nicht, wohin mit den Kräften. Eine intakte und harmonische Beziehung trägt sehr zur inneren Stabilität bei.“
Er hatte es geahnt. Jetzt Farbe zu bekennen bedeutete ein Seelenstriptease, den er unbedingt vermeiden musste. Und was bitteschön hatte eine Freundin mit seinem Problem zu tun? „Ich hab eben keine,“ presste er über die Lippen. „Ist das so schlimm?“
„Es ist nicht schlimm, aber auch keine Antwort. Hatten sie noch nie eine Freundin?“
Jetzt war es soweit. Pudermichs Augen verrieten ihm, dass er nicht mehr locker lassen würde. Er musste sich entscheiden. Gehen oder bleiben.
„Nur keine Angst, Jens. Sprechen sie sich aus. Es wird Ihnen helfen.“
Sein Hemd war im Rücken schweißgenässt und er zitterte am ganzen Leib. Konnte er sich dem Psychologen anvertrauen? Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. „Ich bin anders, als andere!“
„Interessant. Aber das sind viele, mein lieber. Schwul sein ist heutzutage etwas völlig Normales.“
„Ich bin nicht schwul,“ brüllte Jens aufgebracht. „Ich war noch nie schwul. Ich war überhaupt noch nichts.“ Er sackte in sich zusammen. Ihm schien es, als ginge die Welt unter. Wäre er doch nie zu diesem idiotischen Termin gegangen. Aber jetzt war es zu spät, denn er hatte sich in den Fallstricken des Therapeuten verheddert.
„Wenn sie nicht schwul sind, dann vielleicht ein Transvestit? Fühlen sie sich wie eine Frau? Ist es das, was sie so aufregt?“
„Nein...!“, knurrte Jens völlig entnervt und sprang auf. Wütend über sich und den kleinen Arzt wanderte er hin und her, zog kleine Kreise im Praxiszimmer und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Er würde mit der Wahrheit herausrücken müssen. Dieser hinterfotzige Psychologe hatte ihn völlig im Griff und er würde seinen Fragen nicht mehr entrinnen können.
„Haben sie vielleicht perverse Neigungen, über die sie nicht sprechen wollen?“
Abrupt blieb er stehen, wandte sich dem Arzt zu und erwiderte tonlos. „Sind sie verrückt geworden?“
„Ich nicht,“ antwortete Pudermich in stoischer Ruhe. „Sind sie vielleicht pädophil? Oder fühlen sie sich zu sehr alten Frauen hingezogen? Nur zu, ich höre ihnen zu. Sie können hier in diesem Raum alles sagen.“
„Nein. Nichts von alle dem.“ Jens kämpfte mit aufkommenden Tränen und wisperte weinerlich: „Ich hab keinen...“ In seiner Miene spielte sich nun ein emotionales Drama ab.
„Sie haben was nicht...? Nur Mut!“
„Keinen Piselmann....,“ brach es aus ihm heraus. Er blickte aufgelöst aus dem Fenster. Tränen standen ihm in den Augen und er knetete vor innerer Aufgewühltheit seine Fäuste, bis die Knöchel weiß wurden.
„Wie soll ich das verstehen, Jens? Piselmann? Was meinen Sie genau...?“, drang es an sein Ohr wie durch eine Nebelbank.
Konnte der Kerl nicht aufhören? Sah er denn nicht, wie unendlich schwer es ihm gefallen war, sein größtes Geheimnis zu lüften? Verstand dieser Depp überhaupt nichts? „Mir ist..., Scheiße....!“ Jens rang wieder nach Worten. „Ich hab keinen Dings. Verstehen sie jetzt?“
„Nein. Jedenfalls nicht genau. Unter Dings kann man viel verstehen. Nennen sie einfach das Dings beim Namen. Sie werden sehen, es tut nicht weh.“
„Keinen Schwanz!“ schrie er verzweifelt. „Keinen Pimmel...!“, wiederholte er mit aller Kraft, als wolle er dem kleinen Mann im Sessel jene Unmöglichkeit in die Ohren hämmern. Die Ungeheuerlichkeit stand wie ein Sakrileg im Raum. Und jetzt, nachdem er es mit aller Kraft heraus geschrieen, schien es ihm wie eine Befreiung. Mit einem Male fühlte er eine merkwürdige Leichtigkeit. Er musste es noch einmal wiederholen! „Ich habe keinen Schwanz! Deswegen brauche ich auch keine Freundin. Was soll ich auch mit ner Frau....?! Ist es das, was Sie wissen wollten?“
„Hm.“ Doktor Pudermich schien kaum beeindruckt zu sein. „Gar keinen?“ fragte er vorsichtig. „Oder ist er ihrer Meinung nach nur ein wenig klein geraten und sie leiden ein klein wenig unter Minderwertigkeitsgefühlen?“
„Gar keinen. Nichts. Absolut gar nichts. Ich habe nur ein verkümmertes Anhängsel zwischen den Beinen.“ Jens Gesichtsfarbe war bleich und er fühlte sich matt und ausgelaugt.
„Unfall?“
„Nein. Kein Unfall. Da war noch nie etwas. Ich bin so auf die Welt gekommen. Die Ärzte meinten bei meiner Geburt, dass irgendetwas mit meinen Genen nicht in Ordnung sei.“
„Hm. Und das ist der Grund, warum sie im Internet Artikel schreiben? Kompensieren sie damit Ihr Sexual-Mangel-Syndrom und suchen sich auf diesem Wege Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung? Sozusagen als Ersatzhandlung?“
„Ja“, antwortete er kleinlaut. „Und jetzt will mich keiner mehr. Dabei gebe ich mir unendlich viel Mühe, die Chat-Gemeinde zu unterhalten. Aber anstatt sich zu freuen, bekomme in letzter Zeit nur noch Beschimpfungen und hämische Bemerkungen. Die Handvoll Leute, die mich noch mögen, sind Mädels. Aber was soll ich mit denen? Schreiben ist doch das Einzige, was ich habe!“
„Verstehe,“ antwortete Dr. Pudermich. „Es ist in der Tat ein größeres Problem, als ich ursprünglich angenommen hatte. Wenn sie meinen Rat wollen, Jens, dann versuchen sie darüber hinweg zu kommen. Sie sollten vielleicht Gedichte schreiben, etwas Lyrisches. Vielleicht mögen das ihre Leser. Oder kaufen sie sich einen Porsche. Wenn sie sich ein solches Auto nicht leisten können, empfehle ich ihnen auszuwandern. Alaska soll ein gesundes Klima haben. Dort ist es so kalt, da merken sie gar nicht, dass sie keinen haben....“