Die Migrantin (2025)
Verfasst: 17.04.2025, 23:02
Zwischen West und Ost - eine neue Ehe
Die sogenannte Wende
Das Familienfest im Heimatland
Die Stimme einer Taubstummen
Zwischen West und Ost - eine neue Ehe
Die Nutten standen in Reih und Glied und traten sich die Füße platt. Es war an einer abseitigen Straße, nicht an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten, aber jeder wusste, wo es war und wurde dorthin verwiesen, wenn er nach irgendetwas fragte, selbst einer Bank oder einer Tankstelle. Man ging automatisch davon aus, dass ein Fremder sich nur deshalb hier an dieses Ende der Welt verirrt hatte, um die Prostituierten aufzusuchen. Hier, an diesem verruchten Ort, waren sich selbst Hausfrauen nicht zu schade, sich feilzubieten, während ihre Männer mit einem LKW irgendwo in Europa unterwegs waren. Wenn man von „Banka, Tankstelle“ sprach, erschien auf den Gesichtern der Einheimischen ein wissendes Lächeln, aha, wieder einer von denen, die von weit, weit her auf den schnellsten Weg zum Ziel hofften zu gelangen, nämlich zu einem der hundert Meter langen Stiche mit Laien-Prostituierten. So wurde dem dem Fremden, noch bevor er das Wort ausgesprochen hatte, der nächste Weg gezeigt. So mancher Touristen erlebte mitunter ein böses Erwachen, wenn er plötzlich vor den Hundert Meter auf dem Bürgersteig aufgereihten Schönheiten stieß anstatt vor einem nüchternen Gebäude, das zu zweckdienlichen Diensten errichtet worden war.
Aber die Frau, von der ich spreche, war nicht dort. Sie hätte keine Chance gehabt gegen die Einheimischen, die an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten flanierten, promenierten und defilierten. Sie war als Verkäuferin nach Europa gekommen, von Vietnam aus und hatte zwei kleine Kinder bei der Familie zurückgelassen. Ihre Familie, ihr Clan, ihre Dynastie war stark, verlässlich und weit verzweigt, als höchstes Gut und Gebot, Abfangjäger, Trapez und doppelter Boden. Dieses starke Netzwerk, diese Seilschaft hatte es ihr ermöglicht, eine zweite Existenz aufzubauen. Gerade nachdem ihr ungeliebter Mann bei einem Mopedunfall ums Leben gekommen war: Es musste weitergehen, das Leben musste fortgesetzt werden, irgendwie so oder so, natürlich materiell gut, abgesichert, soweit es ging und möglich war. Zumal sie zwei Kinder hatte. Was sie hier trieb, war Handel, nicht mit ihrem Körper, sondern mit Waren aller Art.
Sie kam aus Nordvietnam nach Tschechien, kurz nach dem endgültigen Riss im Eisernen Vorhang, nach dem Fall der Mauer und Scheitern des zweiten Deutschlands, wo sich bereits einige ihrer Landsleute im Zuge der kommunistischen Internationalen Solidarität niedergelassen oder soll man sagen hängen geblieben waren. Mit Hilfe von Landsleuten der ehemaligen DDR hatte sie hier an der Grenze zu Tschechien Fuß fassen können, von wo aus sich florierende Handelsbuden und Textilverkaufsstände betreiben ließen, so schnell abgebaut wie aufgebaut. Grenzen waren schon immer florierende Handelsbastionen. Vor allem bei den großen Einfallstraßen, dieser hier von Westen nach Osten. Hier war es optimal, seine Waren feilzubieten.
Unterkunft brauchte man nicht, man schlief gleich in diesen Verschlägen, hinter dem Kleidertisch, zwischen den Pappkartons, in denen die gleichen Sachen ein- und ausgepackt worden waren.
Keiner von diesen ehemaligen Vietnamesen wollte zurück in seine ehemalige Heimat, einem Entwicklungsland. Vielmehr schaute man, von den neuen in die alten kapitalistischen Bundesländer Deutschlands zu gelangen, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Mochte die alte Heimat noch so sehr prosperieren, trotzdem würde es Generationen dauern, bis Osten und Westen sich nivelliert, angeglichen und auf gleicher Stufe gestellt hatten.
Ein Unterschied zu West- und Deutschland bestand in Vietnam schon längst. Zwar waren Nord und Süd nach dem Abzug, der Vertreibung der Amerikaner von den Kommunisten überrannt, vereinnahmt und beherrscht worden, aber immerhin hatten sie sich vereint. Sie hatten nicht nur das getan, was Ost und West in Europa noch bevorstand, sie hatten den Sozialismus längst überwunden, überschritten und absorbiert. Trotz des „Sozialismus“ in Vietnam blühte die Einzelwirtschaft und wenn nicht so wie gewünscht, setzte man halt alle Hebel in Bewegung, um als Einzelhändler oder als in einer dieser Branche Beschäftigter sein Glück im entferntesten Winkel dieser Erde zu suchen und zu machen.
Familienunternehmen waren sowieso die erste Wahl schlechthin in diesem Kulturkreis.
Niemand, kein Staat, keine Gesellschaft sorgte sich letztlich um einen, außer der Familie, der Familienclan.
Mit vielen Gleichgesinnten, vor allem weiblichen, die anfangs zu sechst in einem Zimmer mit Stockbetten oder auf Matratzen hausten, die fast die ganze Fläche des kleinen Zimmers einnahmen und kaum Platz ließen für andere Dinge, einen kleinen Tisch und Stuhl, um mal dort einen Tee zu genieße, kam sie in dieses Grenzland zwischen früherer Ost- und Westzone, Tschechien, ein neuer Staat, wie der Name schon ausdrückte, aus Tschechoslowakei entstanden.
Tagsüber stand sie an windigen, breiten Straßen, die von Verkaufsbuden gesäumt waren, die billige Asia-Textilia-Produkte feilboten. Neugierige Blicke von reichen Westlern aus ihren beäugten sie, nicht wissend, ob deren Aufmerksamkeit den billigen Waren oder vermeintlich billigem Fleisch galt. Machte jemand anzügliche Bemerkungen, verwies sie diesen mit einem Fingerzeig nach hinter den Kleiderstangen und Ständen, wo die ehrbaren Hausfrauen ein bescheidenes Zubrot verdienen wollten, um ihre ärmlichen Verhältnisse aufzubessern.
Zur Zerstreuung gingen sie ab und zu, natürlich nur in Gruppen, abends in Bars, Casinos, um die Welt zu sehen. „Angel dir einen reichen Westler, lass dich heiraten und hol dir später deine beiden Töchter nach. Dort haben sie eine besser Zukunft. So hatte der geschmähte Vater gesprochen, mit dem sie sich nach dem Tod der Mutter überworfen hatte, weil er seine Geliebte zur Frau genommen hatte. Warum hatte er nur seine Geliebte heiraten müssen, dumm von ihm, jetzt war die ganze Familie, alle gegen ihn. Konnte man eine Geliebte nicht Geliebte sein lassen, musste man dieses Verhältnis absegnen und legitimieren? Diese Schwiegermutter bedeutete für alle leiblichen Kinder den Verlust des Erbes. Sie sprachen kein Wort mehr mit ihm.
*
Viele reiche Westler machten große Augen und hielten nach allen Regeln der weniger galanten als geschäftlichen Art Hof um die begehrten blanken, seiden-weißen Asiatinnen. Diese Männer erinnerte sie an die Hunde in ihrer Heimat. Wenn sie Hunger hatten, hechelten sie mit heraushängender Zunge. Richtig gefährlich wurden sie, wenn man ihnen einen Knochen vor die Nase hielt und sie zappeln ließ.
Doch ihr sollte es nur recht sein.
In ihrem Fall sollte es einerseits eine geschäftliche Abmachung, andererseits eine romantische Verführung werden, zudem eine Reaktion auf Eifersucht, wenn man an diese leichten Mädchen aus Tschechien dachte, vor allem die mit ihrem dunklerem Teint. Obgleich die blank und samtweißen Asiatinnen eindeutig von den Weißen favorisiert wurden, wurden sie doch nicht so schnell in die Lage versetzt, sich diesem Umfeld anzupassen. Die weißen Männer unterließen offensichtlich nötige Hilfestellung zum Erlernen der Umgangssprache und ergötzten sich lieber an deren hilflosen Herumgestammle. Das R, das fehlte, das L, das dafür eingesetzt wurde – man kennt die Witze. Dadurch waren sie aber eklatant und unüberhörbar gegenüber ihrer Konkurrenz im Nachteil und Hintertreffen was einen größeren Druck beim Bewerbungszeremoniell hervorrief. Die Asiatinnen warfen sich regelrecht an die Freier.
Sex bedeutete ihr selbst nicht viel, ab und zu hatte sie mal eine vergnügliche Nacht mit gutem, reichlichem Essen und Sex gehabt, einmal eine sogar sehr aufregende Orgie, als sie sich mit ihrer Freundin von zwei besonders mit dicken glitzernden Rollex-Uhren protzenden Weißen hat abschleppen ließen und zu viert im Bett gelandet waren, bunt durcheinander, Menage à quatre... – man lebt nur einmal!
Aber noch war alles ein Spiel. Sie lachte viel mit ihren Landsleuten über die eine oder andre Art. wie die notgeilen Männer Westler um sie herumtänzelnden, balzten und verrenkten.
Der eine überhäufte sie mit besonderer Aufmerksamkeit, mit liebevollen Botschaften, Zettelchen an der Rezeption, beim Barkeeper oder sogar auf dem Abtreter vor ihrer Tür. Hinzu kamen SMSs und langwährenden Ansprachen auf der Sprachbox ihres Mobilgerätes – es boten sich viel lustige Anlässe über diese besessene Art des Bemühens, Umgarnens, Umflitterns zu lachen. Das verband mit anderen Vietnamesinnen, das machte einem zu einem Zugehörigen eines anderen Kulturkreises. Vielleicht sogar eines besseren?
Der eine bombardierte sie mit üppigen Geschenken. Wenn er sie ausführte, selbst wenn sie sich nur in einer Hotelbar verabredet hatten, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu überreichen, einen Blumenstrauß, eine Tafel Schokolade, eine kleine Phantasiefigur auf einem Zahnstocher. Kavalier der alten Schule, der er war, musste die Dame niemals die Zeche bezahlen. Seine Anfragen verwandelten sich bald in Anträge, die sie schweigend zur Kenntnis nahm, insgeheim schon bedächtig abwog. Unmerklich wurde sie biegsamer und zugänglicher, erschien der Mann doch so aufrichtig und vielversprechend. Doch gerade deshalb ließ sie sich nicht so schnell über den Tisch ziehen und dehnte das Prozedere so lange wie möglich in die
Länge. Bei einem weniger ernsthaften Bewerber hätte sie bestimmt schon längst eine schnelle Nummer geschoben und damit aus die Maus. So lange wie möglich ablehnen, auf die lange Bank schieben, abwarten, das erhöhte den Einsatz, die diese Geduld lohnte.
Nach und nach wurde sie sich sogar so vertraut, dass sie miteinander schwiegen, vielmehr saßen sie zusammen an der Theke und er spielte leidenschaftlich am Geldautomaten, was sie überhaupt nicht störte. Sie hatte Zeit, sich von Ruhe und Besinnlichkeit überwältigen zu lassen, wobei sie in die Szenerie um sie herum eintauchte, die sich wie ein Filmset mit verheißungsvollem Plot öffnete.
Unzählige Alkoholika in buntesten, eigentümlichsten Formen und Farben auf dem Regal vor der Spiegelwand aufgereiht, vielfach kopiert und sich ins Unendliche vervielfältigend. Davor das Treiben des Barkeepers mit dem blitzenden Chrom-Becher, dessen Anblick sie fesselte und versinken ließ: tiefschwarzer Anzug, weißes Hemd, dezente Fliege, lächelnde Ernsthaftigkeit - bis sie wieder von dem Funkeln und Glitzern des blitzenden Cocktail-Chrombechers gefangen wird und weg fliegt in eine glänzende Zukunft und eintritt in die große weite Welt, in der sie schon mit einem Bein steht. Oder nicht?
Aufwachen!
Vorsicht!
Eines anderen Tages.
Die Zeit bis zum großen Moment, der heute sein würde, überbrückte sie mit einer asiatischen Freundin. Das Gesprächsthema sprudelte das aus einer unerschöpflichen Quelle: homosexuelle Männer und Paare. Einer von ihnen war der Barkeeper, der gerade ganz ungeniert einem Gast, vermutlich seinen Liebhaber, einen Begrüßungsschmatz auf die Lippen drückte. Die staunenden Beobachterinnen konnte ihr kichern nur mühsam unterdrücken.
Das war das Lieblingsthema der Asiatinnen. Das Phänomen, Homosexualität, gar zwischen Frauen, war in ihrem Land undenkbar. Eine Familie, die so etwas duldete, war für immer mit einer unauslöschlichen Schande behaftet. Von daher kam so etwas in ihrem Herkunftsland praktisch nie vor. Aber im Westen umso mehr und das war ja auch der seltsame Westen. Da war alles möglich! Faszinierend und abstoßend zugleich. Aber je länger man hier lebte, desto mehr überwog zugegebenermaßen die Faszination.
„Da kommt ja dein Galan!“, sagt ihre Freundin und kichert hinter vorgehaltener Hand so laut, als müsste sie sich übergeben. „Aber er ist wirklich ein schickes Exemplar!“ Galant rutscht sie vom Barhocker und eilt davon, um die Arena für die nächste Runde freizugeben.
Wahrscheinlich würde dies heute die wichtigste sein. Sie riss sich zusammen, straffte den Rücken: Aufpassen, denn es ging um nichts Geringeres als ihre Zukunft, sich den Grundsätzen einer korrekten Gesprächshaltung unterwerfen, wie sie es gelernt und wie ihr Vater es ihr immer wieder eingebleut hatte: Überlege zweimal, bevor du antwortest und überlege ein drittes Mal, wie du deine Antwort allgemein und unverbindlich wie möglich halten kannst.
Wohlgefallen überkommt sie, je näher er kommt, ja, sie hat allen Grund, ihn liebevoll zu taxieren, wie eine Mutter ihr Kind mustert, das liegt an ihrer Erziehung, Mensch, wie lange ist es her, dass sie ihre Kinder so musterte? Als sie ihnen das Anziehen beibrachte, sie vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigen und kontrollieren musste. Obwohl es nur ein paar Jahre her sind, fühlt es sich wie ein Jahrzehnt an.
Anzug, Hose, Bügelfalte – oho, er bügelt sogar sehr Hosen sehr sorgfältig - und erst seine braunen, spitz zulaufenden Halbschuhe, die glänzten wie Sonnenstrahlen auf dem Meer. In seiner Anzugtasche steckte, wie die Krone eines Königs, ein buntes Tuch aus Papier oder Stoff. Wie stilvoll!
Oft half es, bevor man antwortete und Zeit gewinnen wollte, die Worte des anderen mit anderen Worten zu wiederholen, der dann meistens bestätigte, was er gesagt hatte und noch einmal zum Nachdenken über sein Gesagtes angeregt wurde. Oft auch noch etwas zu ergänzen und anzufügen half. Wie Tao Te King sagte: „Viele Worte, manch Verlust. Am besten, man behält sie in der Brust!“
Dann der Duft!
Man riecht zwar das leicht beizende Rasierwasser, aber das Parfüm ist betörend, vielleicht benutzt er auch ein Creme. Andererseits, selbst wenn er noch so intensiv nach Rasierwasser riechen würde, hätte es sie nicht gestört, sie liebt starke Gerüche.
Er ist sich etwas wert, das sieht man, obwohl er ein bisschen nach Bier riecht, aber das gehört dazu. Er setzt sich zu ihr an die Theke, ohne vorher nicht formal-höflich „Guten Abend“ und "Darf ich Platz nehmen?" gesagt zu haben. Das gehört dazu! Dann die Frage nach ihrer Befindlichkeit, den familiären zudem, ihre zwei Kinder, bevor er nach den Geschäften fragte. Obwohl sie schon zigmal miteinander geplaudert haben, wahrte er immer noch eine gewisse Distanz, ist nicht plump vertraulich. Das gefällt ihr sehr gut! Ihr scheint es, dass sie es ist, die letztlich die markanten Schritte zu mehr Vertraulichkeit macht, sie bestimmt den Takt ihrer Beziehung, er wirkt geradezu schüchtern, zurückhaltend, aber auch abwartend.
So setzt er sich auf den Barhocker neben ihr, ein Bein über das andere geschlagen, ihr zugewandt, ganz charmante Aufmerksamkeit. Diese Haltung muss unbequem sein, wie bei Frauen, die auf Pferden reiten, die setzen sich manchmal so darauf, obwohl es auf Dauer sehr unangenehm sein musste, aber er verharrt den ganzen Abend in dieser Haltung. Hat er allerdings zu viel intus, dann wechselt er in eine bequemere Stellung, nämlich Beine auf das Geländer der Theke am Boden und oft schwer betrunken die Oberarme auf die Bar gelegt. Aber das ist nur zu vorgerückter Stunde der Fall, vorher ist er stets respektvoll und doch locker.
Ein interessanter Typ von Mann!
Am besten gefällt ihr, dass er den Eindruck macht, alle Hände voll zu tun zu haben. Er müsse plötzlich ein Geschäftsgespräch am Telefon führen, dringend etwas in sein Notizblock vermerken. Imposant. (Dabei, was sie nicht ahnt, steckt er in geschäftlichen Kalamitäten: sein Geschäftspartner will abspringen). Während er in gebeugter Haltung auf den Knien schreibt, stellt sie mit Genugtuung fest, dass selbst neben der Korrektheit seines Anzuges, des Hemdes, der Hose, der Schuhe, die Kleinigkeiten stimmten: der Kraken ist nicht verrutscht, steht immer da, wo er stehen soll. Über dem dünnen Pullover steht sie noch davor und ohne oder Fliege hat sie ihn noch nie gesehen. Für sie sind das Symbole und Ausdruck für einen Kaufmann der alten Schule. Er versteht auch hin und wieder, ein paar englische Brocken ins Gespräch zu werfen, (in Wahrheit hasst er die Engländer) nicht oft, dann hätte es protzig und angeberisch geklungen. (Wahrscheinlich tat er dies nur, weil er wusste, sie verstand überhaupt kein Englisch. Aber heraushören tat sie es schon.)
Er gibt vor, viele Freunde in der Tschechei zu haben (die Bedeutung dieses Ausdrucks ist ihr nicht geläufig, aber in ihrem Umfeld gängig), hat für jeden ein paar nette Worte übrig, erweckt den Eindruck, viele Bekannte zu haben, behandelt auch einige Leute als solche, indem er sie (plump) vertraulich anspricht und ihnen auf die Schulter klopft. Es wirkt aber trotzdem noch zurückhaltend. Ach, dummerweise versteht sie noch zu wenig von dieser Sprache, Deutsch. Will sie aber ihr Deutsch verbessern, hilft er ihr nicht. Er lacht nur und meint. „Schatzi, so wie Du sprichst, passt das schon!“ und lacht noch mehr. Eigenartig, aber das „Das-passt-schon“ versteht sie mittlerweile. Damit gibt sie sich zufrieden.
Später findet sie heraus, dass er Englisch nicht mag und auch sonst nur wenig Kontakt zu anderen Mensch pflegt. Er hat eigentlich nur Kontakt zu Leuten, mit denen er Geschäfte macht, das sind auch seine Bekannten und Freunde. Ausländer, in diesem Fall Tschechen sind ihm suspekt. Ausländer mag er überhaupt nicht, die sollen bleiben, wo sie herkommen, jedenfalls nicht nach Deutschland kommen, es sei denn, sie sind familiär hier gebunden, sprich, mit Deutschen verheiratet. Selbst da macht er Ausnahmen, findet, es solle nicht sein, dass ein Dunkelhäutiger deutsches Blut „beeinflusst“. Sie sollten nicht geheiratet werden.
„Aber das ist zum Glück bei dir nicht der Fall!“, sagt er und lacht.
Sie denkt über seine Worte nach, fragt ihn noch einmal, er brabbelt etwas, dass denen später doch leid tun würde, dunkelhäutig zu sein, denn sie hatten unter den Vorurteilen der Engstirnigen und „der Mehrheit“ zu leiden. „Schade um sie!“
Sie wiegt den Kopf wie ein Vogel, der einen von links und rechts und oben und unten betrachtet und sagt sich: klingt eigentlich vernünftig. Schließlich kennt sie Kindern und weiß, wie brutal, gemein und sadistisch sie sein können. Kinder kennen kein Pardon.
„Die müssen die Suppe auslöffeln!“, sagt er und hebt sein Pilsglas, um ein Bierchen zu zischen. Aber ganz. Er kann erstaunlich viel trinken. Er stellt es ab, seufzt und atmet aus, als hätte ein Verdurstender gerade nach 60 Tagen wieder Kontakt mit Flüssigkeit gehabt,, sagt sie, auch wenn sie ihn manchmal ermahnt, weil sie den Eindruck hat, er habe schon zu viel hinter die Binde gekippt. „Eins geht immer noch!“ , und lacht dazu. Sie denkt. „Männer!“
„Aber was ist mit mir?“, sagt sie. „Wie mit Dir?“
„Wenn wir heiraten!?“
„Na, wir wollen doch keine Kinder!“, er hat sein Pilsglas schon an die Lippen gesetzt, wartet noch, was sie sagt, bevor er trinkt. Nach ihrer Antwort kann er zufrieden loslegen.
„Ja!“, sagt sie. „Weißt du, wenn sehr viel Licht ist, wie im Sommer, dann werde ich ganz schnell dunkel!“
Plötzlich sieht er sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie war käseweiß und kreidebleich, nicht wahr, doch eine Asiatin!
„Aber im Winter bin ich wie jetzt. Weiß!“
„Genau!“, prostet er ihr wieder zu. „Auf die weiße Hautfarbe!“
Sie entgegnet noch, sie würde ganz schnell eine etwas dunklere Haarfarbe im Sommer, bekommen bei starker Sonneneinstrahlung halt, wurde aber genauso schnell wieder käseweiß im Herbst, sowie die Einstrahlung nachließ.
Dazu sagt er jetzt nichts mehr.
„Na wenn schon!“, denkt er. Wo er wohnte, war es meist dunkel, neblig und düster. Da war es kein Problem, dass man ihn mit einer Negerin als Lebensgefährtin schief anschaute, denn sonst – Pfüdie Gott!
Er nahm noch einen großen Schluck.
Sie macht ihn auf einen interessanten Aspekt ihrer Augen aufmerksam.
Ihre Augen seien sehr dunkelbraun mit einem Schuss Gelb. Aber eher sehr, sehr dunkles Gelb.
Er kommt näher, grinst breit. „Ja, und um die Iris, die so dunkel ist wie das Schwarze Meer, ist ein noch dunklerer Ring. Du bist wie ein kleiner Äffchen aus dem Urwald!“ Er lacht schallend und schlägt sich auf die Knie.
Sie lacht auch, sie findet das Wort „Affe“ auch sehr lustig. Sie klatscht fröhlich in die Hände.
Sie ist sozusagen ein anderer Mensch, sie verkörpert eine besondere Gattung, vielleicht ist sie ein ganz besonderer Mensch, sie die Vietnamesin, Vertreterin der asiatischen Rasse.
Sie findet das sehr amüsant, sagt er. Sie fasst das als Kompliment auf, lächelt, freut sich und legt ihre Hand auf seine Knie. (Vielleicht hätte man es auch anders interpretieren können, weniger schmeichelhaft, fast rassistisch?)
Plötzlich ändert sich die Szene.
Dunkel-geschminkte, schwarze Augen blitzten, kurze asymetrisch geschnittene Kurzhaarschnitte glänzten vor Gel. Der Busen-Ausschnitt stand großzügig offen. Die klebrig geschminkten Lippen, geradeheraus, schamlos-direkt wirkten aufreizend, anmachend, erschütternd, notgeil bis ins letzte Knochenmark. Die Typen aus dem Westen. Diese scharlachroten Münder, inmitten dieser stets zu einem verzerrten, lüsternen Grinsen geöffneten Gesichter, diese fuchtelnden, mit Gold- und Silberreifen behängten, knochigen Arme und Hände, die in den Hotelzimmern mit Zeichen und Gesten, Massage und dergleichen anboten, machten sie nervös.
Steckte Eifersucht dahinter? Vor sich selbst sagte sie sich, sie kenne keine.
Jedenfalls begann sich ihr Blick von ihm zu ändern.
Dieses großzügige Trinkgelder, wo er doch ständig unter Geldmangel leidet, wie er oft klagte, würden ihn ruinieren – er erschien ihr wie ein kleines Kind , dem man sein Spielzeug wegnehmen musste. Und diese Weiber nutzen das schamlos aus, er spendiert ihnen, wann immer er sie sieht, einen Drink.
„Oh, Albert! Süßer!“ Sie kann es nicht mehr hören, sie hasst diese Zigeunerinnen. Oft muss sie ihn in die Rippen stoßen, damit er merkt, was er wieder falsch macht. Kurz, mehr als Verantwortung beginnt sie für ihn zu empfinden, die Erzieherin in ihr erwacht und sie macht ihm Vorschriften, Vorschläge, wie er besser mit seinem Geld haushalten kann, formuliert Einschränkungen, die sich gewaschen haben.
Er lächelt darüber, als sei er besonders amüsiert.
Er fühlt sich ernst genommen, in Besitz genommen, endlich die ersehnte Wende in seinem leeren Leben, wieder in festen Händen zu sein – na also, es kann losgehen!
Sie fühlte sich befremdet, als sie beim ersten Mal seine Wohnung betrat, besonders das Schlafzimmer ging ihr gegen den Strich. Er knipste lächelnd ein paar Lampen auf, die mit billigem roten Schirm bespannt waren. Und dann die völlig geschmacklosen, japanischen Wandschirme, die sein Bett umstellten; der Bettbezug mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt - völlig geschmacklos! Es sah aus, wie bei den berüchtigten leichten Mädchen.
Wahrscheinlich hatte er sich dieses Accesseoir angeschafft, damit sie sich heimisch fühlte: asiatischer Stil undsoweiter. Sie jedoch hatte sich auf deutschen Stil gefreut. Für beide war es eine Enttäuschung, am meisten für ihn, der Umstände gehabt hatte.
Er bemerkte, dass sie erstaunt dreinschaute und das Gesicht verzog.
„Ich dachte, Du magst so etwas.“
„Ja, schon!“
Das Licht war rod gedämpft wie in einem Bordell, in einigen Ecken blinkten rote kleine Lichter auf einer Girlande. Sie registrierte zwar freudig seine Mühen, die er sich gemacht hatte. Weil extra eingerichtet, würde das Zimmer nicht für immer derart geschmückt sein müssen. Sie würde einiges ändern müssen, wenn sie hier einzog. Das wusste sie jetzt.
Wie eine Gestalt von einem anderen Planeten nahm er sie wahr, diese kleine, mausgraue Gestalt. Hauptsache, sie war mal viel jünger war, er spürte schon die ersten Zipperlchen des Alters. Er hoffte, dass sie eine gute Ehefrau werden würde, vor allem wenn es bei ihm losging mit den Gebrechen. Er rechnete damit, dass das in seinem Fall unvermeidlich sein würde, bei seinem Leben als eigenständiger Unternehmer, das von einigen Turbulenzen erschüttert worden war. Das das lag in der Natur der Sache, dafür hatte er gutes Geld verdient. Aber wenn da nicht diese riskanten Aktienspekulationen gewesen wären, es sah düster aus.
Hoffnungsvoll und ängstlich schaute er auf sie: Ob das gut gehen würde?
Die sogenannte Wende
Das Familienfest im Heimatland
Die Stimme einer Taubstummen
Zwischen West und Ost - eine neue Ehe
Die Nutten standen in Reih und Glied und traten sich die Füße platt. Es war an einer abseitigen Straße, nicht an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten, aber jeder wusste, wo es war und wurde dorthin verwiesen, wenn er nach irgendetwas fragte, selbst einer Bank oder einer Tankstelle. Man ging automatisch davon aus, dass ein Fremder sich nur deshalb hier an dieses Ende der Welt verirrt hatte, um die Prostituierten aufzusuchen. Hier, an diesem verruchten Ort, waren sich selbst Hausfrauen nicht zu schade, sich feilzubieten, während ihre Männer mit einem LKW irgendwo in Europa unterwegs waren. Wenn man von „Banka, Tankstelle“ sprach, erschien auf den Gesichtern der Einheimischen ein wissendes Lächeln, aha, wieder einer von denen, die von weit, weit her auf den schnellsten Weg zum Ziel hofften zu gelangen, nämlich zu einem der hundert Meter langen Stiche mit Laien-Prostituierten. So wurde dem dem Fremden, noch bevor er das Wort ausgesprochen hatte, der nächste Weg gezeigt. So mancher Touristen erlebte mitunter ein böses Erwachen, wenn er plötzlich vor den Hundert Meter auf dem Bürgersteig aufgereihten Schönheiten stieß anstatt vor einem nüchternen Gebäude, das zu zweckdienlichen Diensten errichtet worden war.
Aber die Frau, von der ich spreche, war nicht dort. Sie hätte keine Chance gehabt gegen die Einheimischen, die an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten flanierten, promenierten und defilierten. Sie war als Verkäuferin nach Europa gekommen, von Vietnam aus und hatte zwei kleine Kinder bei der Familie zurückgelassen. Ihre Familie, ihr Clan, ihre Dynastie war stark, verlässlich und weit verzweigt, als höchstes Gut und Gebot, Abfangjäger, Trapez und doppelter Boden. Dieses starke Netzwerk, diese Seilschaft hatte es ihr ermöglicht, eine zweite Existenz aufzubauen. Gerade nachdem ihr ungeliebter Mann bei einem Mopedunfall ums Leben gekommen war: Es musste weitergehen, das Leben musste fortgesetzt werden, irgendwie so oder so, natürlich materiell gut, abgesichert, soweit es ging und möglich war. Zumal sie zwei Kinder hatte. Was sie hier trieb, war Handel, nicht mit ihrem Körper, sondern mit Waren aller Art.
Sie kam aus Nordvietnam nach Tschechien, kurz nach dem endgültigen Riss im Eisernen Vorhang, nach dem Fall der Mauer und Scheitern des zweiten Deutschlands, wo sich bereits einige ihrer Landsleute im Zuge der kommunistischen Internationalen Solidarität niedergelassen oder soll man sagen hängen geblieben waren. Mit Hilfe von Landsleuten der ehemaligen DDR hatte sie hier an der Grenze zu Tschechien Fuß fassen können, von wo aus sich florierende Handelsbuden und Textilverkaufsstände betreiben ließen, so schnell abgebaut wie aufgebaut. Grenzen waren schon immer florierende Handelsbastionen. Vor allem bei den großen Einfallstraßen, dieser hier von Westen nach Osten. Hier war es optimal, seine Waren feilzubieten.
Unterkunft brauchte man nicht, man schlief gleich in diesen Verschlägen, hinter dem Kleidertisch, zwischen den Pappkartons, in denen die gleichen Sachen ein- und ausgepackt worden waren.
Keiner von diesen ehemaligen Vietnamesen wollte zurück in seine ehemalige Heimat, einem Entwicklungsland. Vielmehr schaute man, von den neuen in die alten kapitalistischen Bundesländer Deutschlands zu gelangen, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Mochte die alte Heimat noch so sehr prosperieren, trotzdem würde es Generationen dauern, bis Osten und Westen sich nivelliert, angeglichen und auf gleicher Stufe gestellt hatten.
Ein Unterschied zu West- und Deutschland bestand in Vietnam schon längst. Zwar waren Nord und Süd nach dem Abzug, der Vertreibung der Amerikaner von den Kommunisten überrannt, vereinnahmt und beherrscht worden, aber immerhin hatten sie sich vereint. Sie hatten nicht nur das getan, was Ost und West in Europa noch bevorstand, sie hatten den Sozialismus längst überwunden, überschritten und absorbiert. Trotz des „Sozialismus“ in Vietnam blühte die Einzelwirtschaft und wenn nicht so wie gewünscht, setzte man halt alle Hebel in Bewegung, um als Einzelhändler oder als in einer dieser Branche Beschäftigter sein Glück im entferntesten Winkel dieser Erde zu suchen und zu machen.
Familienunternehmen waren sowieso die erste Wahl schlechthin in diesem Kulturkreis.
Niemand, kein Staat, keine Gesellschaft sorgte sich letztlich um einen, außer der Familie, der Familienclan.
Mit vielen Gleichgesinnten, vor allem weiblichen, die anfangs zu sechst in einem Zimmer mit Stockbetten oder auf Matratzen hausten, die fast die ganze Fläche des kleinen Zimmers einnahmen und kaum Platz ließen für andere Dinge, einen kleinen Tisch und Stuhl, um mal dort einen Tee zu genieße, kam sie in dieses Grenzland zwischen früherer Ost- und Westzone, Tschechien, ein neuer Staat, wie der Name schon ausdrückte, aus Tschechoslowakei entstanden.
Tagsüber stand sie an windigen, breiten Straßen, die von Verkaufsbuden gesäumt waren, die billige Asia-Textilia-Produkte feilboten. Neugierige Blicke von reichen Westlern aus ihren beäugten sie, nicht wissend, ob deren Aufmerksamkeit den billigen Waren oder vermeintlich billigem Fleisch galt. Machte jemand anzügliche Bemerkungen, verwies sie diesen mit einem Fingerzeig nach hinter den Kleiderstangen und Ständen, wo die ehrbaren Hausfrauen ein bescheidenes Zubrot verdienen wollten, um ihre ärmlichen Verhältnisse aufzubessern.
Zur Zerstreuung gingen sie ab und zu, natürlich nur in Gruppen, abends in Bars, Casinos, um die Welt zu sehen. „Angel dir einen reichen Westler, lass dich heiraten und hol dir später deine beiden Töchter nach. Dort haben sie eine besser Zukunft. So hatte der geschmähte Vater gesprochen, mit dem sie sich nach dem Tod der Mutter überworfen hatte, weil er seine Geliebte zur Frau genommen hatte. Warum hatte er nur seine Geliebte heiraten müssen, dumm von ihm, jetzt war die ganze Familie, alle gegen ihn. Konnte man eine Geliebte nicht Geliebte sein lassen, musste man dieses Verhältnis absegnen und legitimieren? Diese Schwiegermutter bedeutete für alle leiblichen Kinder den Verlust des Erbes. Sie sprachen kein Wort mehr mit ihm.
*
Viele reiche Westler machten große Augen und hielten nach allen Regeln der weniger galanten als geschäftlichen Art Hof um die begehrten blanken, seiden-weißen Asiatinnen. Diese Männer erinnerte sie an die Hunde in ihrer Heimat. Wenn sie Hunger hatten, hechelten sie mit heraushängender Zunge. Richtig gefährlich wurden sie, wenn man ihnen einen Knochen vor die Nase hielt und sie zappeln ließ.
Doch ihr sollte es nur recht sein.
In ihrem Fall sollte es einerseits eine geschäftliche Abmachung, andererseits eine romantische Verführung werden, zudem eine Reaktion auf Eifersucht, wenn man an diese leichten Mädchen aus Tschechien dachte, vor allem die mit ihrem dunklerem Teint. Obgleich die blank und samtweißen Asiatinnen eindeutig von den Weißen favorisiert wurden, wurden sie doch nicht so schnell in die Lage versetzt, sich diesem Umfeld anzupassen. Die weißen Männer unterließen offensichtlich nötige Hilfestellung zum Erlernen der Umgangssprache und ergötzten sich lieber an deren hilflosen Herumgestammle. Das R, das fehlte, das L, das dafür eingesetzt wurde – man kennt die Witze. Dadurch waren sie aber eklatant und unüberhörbar gegenüber ihrer Konkurrenz im Nachteil und Hintertreffen was einen größeren Druck beim Bewerbungszeremoniell hervorrief. Die Asiatinnen warfen sich regelrecht an die Freier.
Sex bedeutete ihr selbst nicht viel, ab und zu hatte sie mal eine vergnügliche Nacht mit gutem, reichlichem Essen und Sex gehabt, einmal eine sogar sehr aufregende Orgie, als sie sich mit ihrer Freundin von zwei besonders mit dicken glitzernden Rollex-Uhren protzenden Weißen hat abschleppen ließen und zu viert im Bett gelandet waren, bunt durcheinander, Menage à quatre... – man lebt nur einmal!
Aber noch war alles ein Spiel. Sie lachte viel mit ihren Landsleuten über die eine oder andre Art. wie die notgeilen Männer Westler um sie herumtänzelnden, balzten und verrenkten.
Der eine überhäufte sie mit besonderer Aufmerksamkeit, mit liebevollen Botschaften, Zettelchen an der Rezeption, beim Barkeeper oder sogar auf dem Abtreter vor ihrer Tür. Hinzu kamen SMSs und langwährenden Ansprachen auf der Sprachbox ihres Mobilgerätes – es boten sich viel lustige Anlässe über diese besessene Art des Bemühens, Umgarnens, Umflitterns zu lachen. Das verband mit anderen Vietnamesinnen, das machte einem zu einem Zugehörigen eines anderen Kulturkreises. Vielleicht sogar eines besseren?
Der eine bombardierte sie mit üppigen Geschenken. Wenn er sie ausführte, selbst wenn sie sich nur in einer Hotelbar verabredet hatten, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu überreichen, einen Blumenstrauß, eine Tafel Schokolade, eine kleine Phantasiefigur auf einem Zahnstocher. Kavalier der alten Schule, der er war, musste die Dame niemals die Zeche bezahlen. Seine Anfragen verwandelten sich bald in Anträge, die sie schweigend zur Kenntnis nahm, insgeheim schon bedächtig abwog. Unmerklich wurde sie biegsamer und zugänglicher, erschien der Mann doch so aufrichtig und vielversprechend. Doch gerade deshalb ließ sie sich nicht so schnell über den Tisch ziehen und dehnte das Prozedere so lange wie möglich in die
Länge. Bei einem weniger ernsthaften Bewerber hätte sie bestimmt schon längst eine schnelle Nummer geschoben und damit aus die Maus. So lange wie möglich ablehnen, auf die lange Bank schieben, abwarten, das erhöhte den Einsatz, die diese Geduld lohnte.
Nach und nach wurde sie sich sogar so vertraut, dass sie miteinander schwiegen, vielmehr saßen sie zusammen an der Theke und er spielte leidenschaftlich am Geldautomaten, was sie überhaupt nicht störte. Sie hatte Zeit, sich von Ruhe und Besinnlichkeit überwältigen zu lassen, wobei sie in die Szenerie um sie herum eintauchte, die sich wie ein Filmset mit verheißungsvollem Plot öffnete.
Unzählige Alkoholika in buntesten, eigentümlichsten Formen und Farben auf dem Regal vor der Spiegelwand aufgereiht, vielfach kopiert und sich ins Unendliche vervielfältigend. Davor das Treiben des Barkeepers mit dem blitzenden Chrom-Becher, dessen Anblick sie fesselte und versinken ließ: tiefschwarzer Anzug, weißes Hemd, dezente Fliege, lächelnde Ernsthaftigkeit - bis sie wieder von dem Funkeln und Glitzern des blitzenden Cocktail-Chrombechers gefangen wird und weg fliegt in eine glänzende Zukunft und eintritt in die große weite Welt, in der sie schon mit einem Bein steht. Oder nicht?
Aufwachen!
Vorsicht!
Eines anderen Tages.
Die Zeit bis zum großen Moment, der heute sein würde, überbrückte sie mit einer asiatischen Freundin. Das Gesprächsthema sprudelte das aus einer unerschöpflichen Quelle: homosexuelle Männer und Paare. Einer von ihnen war der Barkeeper, der gerade ganz ungeniert einem Gast, vermutlich seinen Liebhaber, einen Begrüßungsschmatz auf die Lippen drückte. Die staunenden Beobachterinnen konnte ihr kichern nur mühsam unterdrücken.
Das war das Lieblingsthema der Asiatinnen. Das Phänomen, Homosexualität, gar zwischen Frauen, war in ihrem Land undenkbar. Eine Familie, die so etwas duldete, war für immer mit einer unauslöschlichen Schande behaftet. Von daher kam so etwas in ihrem Herkunftsland praktisch nie vor. Aber im Westen umso mehr und das war ja auch der seltsame Westen. Da war alles möglich! Faszinierend und abstoßend zugleich. Aber je länger man hier lebte, desto mehr überwog zugegebenermaßen die Faszination.
„Da kommt ja dein Galan!“, sagt ihre Freundin und kichert hinter vorgehaltener Hand so laut, als müsste sie sich übergeben. „Aber er ist wirklich ein schickes Exemplar!“ Galant rutscht sie vom Barhocker und eilt davon, um die Arena für die nächste Runde freizugeben.
Wahrscheinlich würde dies heute die wichtigste sein. Sie riss sich zusammen, straffte den Rücken: Aufpassen, denn es ging um nichts Geringeres als ihre Zukunft, sich den Grundsätzen einer korrekten Gesprächshaltung unterwerfen, wie sie es gelernt und wie ihr Vater es ihr immer wieder eingebleut hatte: Überlege zweimal, bevor du antwortest und überlege ein drittes Mal, wie du deine Antwort allgemein und unverbindlich wie möglich halten kannst.
Wohlgefallen überkommt sie, je näher er kommt, ja, sie hat allen Grund, ihn liebevoll zu taxieren, wie eine Mutter ihr Kind mustert, das liegt an ihrer Erziehung, Mensch, wie lange ist es her, dass sie ihre Kinder so musterte? Als sie ihnen das Anziehen beibrachte, sie vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigen und kontrollieren musste. Obwohl es nur ein paar Jahre her sind, fühlt es sich wie ein Jahrzehnt an.
Anzug, Hose, Bügelfalte – oho, er bügelt sogar sehr Hosen sehr sorgfältig - und erst seine braunen, spitz zulaufenden Halbschuhe, die glänzten wie Sonnenstrahlen auf dem Meer. In seiner Anzugtasche steckte, wie die Krone eines Königs, ein buntes Tuch aus Papier oder Stoff. Wie stilvoll!
Oft half es, bevor man antwortete und Zeit gewinnen wollte, die Worte des anderen mit anderen Worten zu wiederholen, der dann meistens bestätigte, was er gesagt hatte und noch einmal zum Nachdenken über sein Gesagtes angeregt wurde. Oft auch noch etwas zu ergänzen und anzufügen half. Wie Tao Te King sagte: „Viele Worte, manch Verlust. Am besten, man behält sie in der Brust!“
Dann der Duft!
Man riecht zwar das leicht beizende Rasierwasser, aber das Parfüm ist betörend, vielleicht benutzt er auch ein Creme. Andererseits, selbst wenn er noch so intensiv nach Rasierwasser riechen würde, hätte es sie nicht gestört, sie liebt starke Gerüche.
Er ist sich etwas wert, das sieht man, obwohl er ein bisschen nach Bier riecht, aber das gehört dazu. Er setzt sich zu ihr an die Theke, ohne vorher nicht formal-höflich „Guten Abend“ und "Darf ich Platz nehmen?" gesagt zu haben. Das gehört dazu! Dann die Frage nach ihrer Befindlichkeit, den familiären zudem, ihre zwei Kinder, bevor er nach den Geschäften fragte. Obwohl sie schon zigmal miteinander geplaudert haben, wahrte er immer noch eine gewisse Distanz, ist nicht plump vertraulich. Das gefällt ihr sehr gut! Ihr scheint es, dass sie es ist, die letztlich die markanten Schritte zu mehr Vertraulichkeit macht, sie bestimmt den Takt ihrer Beziehung, er wirkt geradezu schüchtern, zurückhaltend, aber auch abwartend.
So setzt er sich auf den Barhocker neben ihr, ein Bein über das andere geschlagen, ihr zugewandt, ganz charmante Aufmerksamkeit. Diese Haltung muss unbequem sein, wie bei Frauen, die auf Pferden reiten, die setzen sich manchmal so darauf, obwohl es auf Dauer sehr unangenehm sein musste, aber er verharrt den ganzen Abend in dieser Haltung. Hat er allerdings zu viel intus, dann wechselt er in eine bequemere Stellung, nämlich Beine auf das Geländer der Theke am Boden und oft schwer betrunken die Oberarme auf die Bar gelegt. Aber das ist nur zu vorgerückter Stunde der Fall, vorher ist er stets respektvoll und doch locker.
Ein interessanter Typ von Mann!
Am besten gefällt ihr, dass er den Eindruck macht, alle Hände voll zu tun zu haben. Er müsse plötzlich ein Geschäftsgespräch am Telefon führen, dringend etwas in sein Notizblock vermerken. Imposant. (Dabei, was sie nicht ahnt, steckt er in geschäftlichen Kalamitäten: sein Geschäftspartner will abspringen). Während er in gebeugter Haltung auf den Knien schreibt, stellt sie mit Genugtuung fest, dass selbst neben der Korrektheit seines Anzuges, des Hemdes, der Hose, der Schuhe, die Kleinigkeiten stimmten: der Kraken ist nicht verrutscht, steht immer da, wo er stehen soll. Über dem dünnen Pullover steht sie noch davor und ohne oder Fliege hat sie ihn noch nie gesehen. Für sie sind das Symbole und Ausdruck für einen Kaufmann der alten Schule. Er versteht auch hin und wieder, ein paar englische Brocken ins Gespräch zu werfen, (in Wahrheit hasst er die Engländer) nicht oft, dann hätte es protzig und angeberisch geklungen. (Wahrscheinlich tat er dies nur, weil er wusste, sie verstand überhaupt kein Englisch. Aber heraushören tat sie es schon.)
Er gibt vor, viele Freunde in der Tschechei zu haben (die Bedeutung dieses Ausdrucks ist ihr nicht geläufig, aber in ihrem Umfeld gängig), hat für jeden ein paar nette Worte übrig, erweckt den Eindruck, viele Bekannte zu haben, behandelt auch einige Leute als solche, indem er sie (plump) vertraulich anspricht und ihnen auf die Schulter klopft. Es wirkt aber trotzdem noch zurückhaltend. Ach, dummerweise versteht sie noch zu wenig von dieser Sprache, Deutsch. Will sie aber ihr Deutsch verbessern, hilft er ihr nicht. Er lacht nur und meint. „Schatzi, so wie Du sprichst, passt das schon!“ und lacht noch mehr. Eigenartig, aber das „Das-passt-schon“ versteht sie mittlerweile. Damit gibt sie sich zufrieden.
Später findet sie heraus, dass er Englisch nicht mag und auch sonst nur wenig Kontakt zu anderen Mensch pflegt. Er hat eigentlich nur Kontakt zu Leuten, mit denen er Geschäfte macht, das sind auch seine Bekannten und Freunde. Ausländer, in diesem Fall Tschechen sind ihm suspekt. Ausländer mag er überhaupt nicht, die sollen bleiben, wo sie herkommen, jedenfalls nicht nach Deutschland kommen, es sei denn, sie sind familiär hier gebunden, sprich, mit Deutschen verheiratet. Selbst da macht er Ausnahmen, findet, es solle nicht sein, dass ein Dunkelhäutiger deutsches Blut „beeinflusst“. Sie sollten nicht geheiratet werden.
„Aber das ist zum Glück bei dir nicht der Fall!“, sagt er und lacht.
Sie denkt über seine Worte nach, fragt ihn noch einmal, er brabbelt etwas, dass denen später doch leid tun würde, dunkelhäutig zu sein, denn sie hatten unter den Vorurteilen der Engstirnigen und „der Mehrheit“ zu leiden. „Schade um sie!“
Sie wiegt den Kopf wie ein Vogel, der einen von links und rechts und oben und unten betrachtet und sagt sich: klingt eigentlich vernünftig. Schließlich kennt sie Kindern und weiß, wie brutal, gemein und sadistisch sie sein können. Kinder kennen kein Pardon.
„Die müssen die Suppe auslöffeln!“, sagt er und hebt sein Pilsglas, um ein Bierchen zu zischen. Aber ganz. Er kann erstaunlich viel trinken. Er stellt es ab, seufzt und atmet aus, als hätte ein Verdurstender gerade nach 60 Tagen wieder Kontakt mit Flüssigkeit gehabt,, sagt sie, auch wenn sie ihn manchmal ermahnt, weil sie den Eindruck hat, er habe schon zu viel hinter die Binde gekippt. „Eins geht immer noch!“ , und lacht dazu. Sie denkt. „Männer!“
„Aber was ist mit mir?“, sagt sie. „Wie mit Dir?“
„Wenn wir heiraten!?“
„Na, wir wollen doch keine Kinder!“, er hat sein Pilsglas schon an die Lippen gesetzt, wartet noch, was sie sagt, bevor er trinkt. Nach ihrer Antwort kann er zufrieden loslegen.
„Ja!“, sagt sie. „Weißt du, wenn sehr viel Licht ist, wie im Sommer, dann werde ich ganz schnell dunkel!“
Plötzlich sieht er sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie war käseweiß und kreidebleich, nicht wahr, doch eine Asiatin!
„Aber im Winter bin ich wie jetzt. Weiß!“
„Genau!“, prostet er ihr wieder zu. „Auf die weiße Hautfarbe!“
Sie entgegnet noch, sie würde ganz schnell eine etwas dunklere Haarfarbe im Sommer, bekommen bei starker Sonneneinstrahlung halt, wurde aber genauso schnell wieder käseweiß im Herbst, sowie die Einstrahlung nachließ.
Dazu sagt er jetzt nichts mehr.
„Na wenn schon!“, denkt er. Wo er wohnte, war es meist dunkel, neblig und düster. Da war es kein Problem, dass man ihn mit einer Negerin als Lebensgefährtin schief anschaute, denn sonst – Pfüdie Gott!
Er nahm noch einen großen Schluck.
Sie macht ihn auf einen interessanten Aspekt ihrer Augen aufmerksam.
Ihre Augen seien sehr dunkelbraun mit einem Schuss Gelb. Aber eher sehr, sehr dunkles Gelb.
Er kommt näher, grinst breit. „Ja, und um die Iris, die so dunkel ist wie das Schwarze Meer, ist ein noch dunklerer Ring. Du bist wie ein kleiner Äffchen aus dem Urwald!“ Er lacht schallend und schlägt sich auf die Knie.
Sie lacht auch, sie findet das Wort „Affe“ auch sehr lustig. Sie klatscht fröhlich in die Hände.
Sie ist sozusagen ein anderer Mensch, sie verkörpert eine besondere Gattung, vielleicht ist sie ein ganz besonderer Mensch, sie die Vietnamesin, Vertreterin der asiatischen Rasse.
Sie findet das sehr amüsant, sagt er. Sie fasst das als Kompliment auf, lächelt, freut sich und legt ihre Hand auf seine Knie. (Vielleicht hätte man es auch anders interpretieren können, weniger schmeichelhaft, fast rassistisch?)
Plötzlich ändert sich die Szene.
Dunkel-geschminkte, schwarze Augen blitzten, kurze asymetrisch geschnittene Kurzhaarschnitte glänzten vor Gel. Der Busen-Ausschnitt stand großzügig offen. Die klebrig geschminkten Lippen, geradeheraus, schamlos-direkt wirkten aufreizend, anmachend, erschütternd, notgeil bis ins letzte Knochenmark. Die Typen aus dem Westen. Diese scharlachroten Münder, inmitten dieser stets zu einem verzerrten, lüsternen Grinsen geöffneten Gesichter, diese fuchtelnden, mit Gold- und Silberreifen behängten, knochigen Arme und Hände, die in den Hotelzimmern mit Zeichen und Gesten, Massage und dergleichen anboten, machten sie nervös.
Steckte Eifersucht dahinter? Vor sich selbst sagte sie sich, sie kenne keine.
Jedenfalls begann sich ihr Blick von ihm zu ändern.
Dieses großzügige Trinkgelder, wo er doch ständig unter Geldmangel leidet, wie er oft klagte, würden ihn ruinieren – er erschien ihr wie ein kleines Kind , dem man sein Spielzeug wegnehmen musste. Und diese Weiber nutzen das schamlos aus, er spendiert ihnen, wann immer er sie sieht, einen Drink.
„Oh, Albert! Süßer!“ Sie kann es nicht mehr hören, sie hasst diese Zigeunerinnen. Oft muss sie ihn in die Rippen stoßen, damit er merkt, was er wieder falsch macht. Kurz, mehr als Verantwortung beginnt sie für ihn zu empfinden, die Erzieherin in ihr erwacht und sie macht ihm Vorschriften, Vorschläge, wie er besser mit seinem Geld haushalten kann, formuliert Einschränkungen, die sich gewaschen haben.
Er lächelt darüber, als sei er besonders amüsiert.
Er fühlt sich ernst genommen, in Besitz genommen, endlich die ersehnte Wende in seinem leeren Leben, wieder in festen Händen zu sein – na also, es kann losgehen!
Sie fühlte sich befremdet, als sie beim ersten Mal seine Wohnung betrat, besonders das Schlafzimmer ging ihr gegen den Strich. Er knipste lächelnd ein paar Lampen auf, die mit billigem roten Schirm bespannt waren. Und dann die völlig geschmacklosen, japanischen Wandschirme, die sein Bett umstellten; der Bettbezug mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt - völlig geschmacklos! Es sah aus, wie bei den berüchtigten leichten Mädchen.
Wahrscheinlich hatte er sich dieses Accesseoir angeschafft, damit sie sich heimisch fühlte: asiatischer Stil undsoweiter. Sie jedoch hatte sich auf deutschen Stil gefreut. Für beide war es eine Enttäuschung, am meisten für ihn, der Umstände gehabt hatte.
Er bemerkte, dass sie erstaunt dreinschaute und das Gesicht verzog.
„Ich dachte, Du magst so etwas.“
„Ja, schon!“
Das Licht war rod gedämpft wie in einem Bordell, in einigen Ecken blinkten rote kleine Lichter auf einer Girlande. Sie registrierte zwar freudig seine Mühen, die er sich gemacht hatte. Weil extra eingerichtet, würde das Zimmer nicht für immer derart geschmückt sein müssen. Sie würde einiges ändern müssen, wenn sie hier einzog. Das wusste sie jetzt.
Wie eine Gestalt von einem anderen Planeten nahm er sie wahr, diese kleine, mausgraue Gestalt. Hauptsache, sie war mal viel jünger war, er spürte schon die ersten Zipperlchen des Alters. Er hoffte, dass sie eine gute Ehefrau werden würde, vor allem wenn es bei ihm losging mit den Gebrechen. Er rechnete damit, dass das in seinem Fall unvermeidlich sein würde, bei seinem Leben als eigenständiger Unternehmer, das von einigen Turbulenzen erschüttert worden war. Das das lag in der Natur der Sache, dafür hatte er gutes Geld verdient. Aber wenn da nicht diese riskanten Aktienspekulationen gewesen wären, es sah düster aus.
Hoffnungsvoll und ängstlich schaute er auf sie: Ob das gut gehen würde?