Beitragvon Hamburger » 08.12.2003, 16:25
Hallo ihr Beiden!
Na hervorragend - jetzt ist es schon eine halbe Ewigkeit her dass ich mir den Film angesehen und ein zweites Mal angesehen habe und jetzt wird er ins Forum gestellt.
Besser spät als nie, kann man da nur
sagen.
Chialandra, du schriebst, du hättest schon ungefähr eine Vorstellung davon, worum es geht und benutztest die Begriffe "Traum" und "Realität".
Da ich mich ausserstande sehe hier den ganzen Film im Rückblick noch einmal detailiert zu interpretieren (dazu müsste ich ihn wirklich noch ein drittes Mal sehen, auch wenn einiges hängen blieb) schreibe ich jetzt einfach mal meine grossen und kleinen Interpretationsansätze auf. Es mögen auch Banalitäten darunter sein, Dinge, die ihr schon längst erkannt habt. Seid mir darüber dann nicht böse.
Dieser Film ist mit den einfachen Begriffen "Realität" und "Fiktion" kaum zu greifen. Dennoch erscheint es mir möglich seine Handlung zunächst grob zu interpretieren (anhand einer Inhaltsangabe), wenn man zwei Grundvorraussetzungen macht:
1. Betty (Diane) kommt tatsächlich nach Hollywood um dort Schauspielerin zu werden. Dieser Traum wird bitter enttäuscht.
2. Rita (Camilla) hat den Erfolg in Hollywood und spielt mit Betty, deren Naivität sie durchschaut hat.
(Die Namen werde ich synonym verwenden, immer auf den jeweiligen Teil passend)
Davon gehen wir jetzt mal aus. Auf dieser Grundlage behaupte ich. Der erste Teil des Films ist die im Traum wesentlich geschönte Fassung dessen, was tatsächlich passierte. Es ist Bettys Wunschtraum. Das sieht man an dem Verhältnis der beiden Frauen zueinander. Betty kann fürsorglich sein, mütterlich. Durch Rita`s Gedächtnisverlust hat sie eine starke Position. Eine Schlüsselszene ist es dann, als die beiden Frauen das eklig stinkende Zimmer aufsuchen, in welchem sich Betty selbst tot im Bett liegen sieht. Der Cowboy kommt kurze Zeit später herein und sagt: "Es ist jetzt Zeit aufzustehen". In der nächsten Einstellung wacht Betty, die nun Diane heisst, unter genau demselben roten Bettlacken auf der Couch auf, das schon am Anfang eingeblendet war.
Was nun folgt, ist zwar die Realität, es ist das, was wirklich passiert, allerdings durchsetzt mit Dianes Traum-, und Wahnvorstellungen. Sie verfällt zusehends diesen Vorstellungen. Camilla (einiges spricht dafür, dass diese zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist, denn Diane hat einen Auftragskiller beauftragt, und zwar zeitlich vorher) erscheint ihr, verführt sie und spielt mit ihr. Doch bevor Camilla erscheint, erscheint die Nachbarin und sagt: "Sie suchen dich." Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass Camilla bereits tot ist. Mit der Realität steht Betty ab nun fortwährend auf Kriegsfuss. Ihr Traum, Schauspierlin zu werden ist gescheitert und sie hat Camilla ermorden lassen. Ein Ausdruck dieser Wahnvorstellungen sind auch die beiden alten Leute, die nacher aus der braunen Tüte laufen. Auch das sind Diane`s Wahnvorstellungen. Die ganze Welt lacht über sie, selbst das alte Müttlein und der alte Opa. Am Schluss hört man einen Schuss. Dieser weist auf Diane`s Selbstmord hin. deshalb herrscht am Schluss auch "Silencio" - Stille.
2) Viele Kleinigkeiten am Film sind interessant und bedenkenswert. Die These, dass der erste Teil nur ein Traum ist, lässt sich beispielsweise durch die Beobachtung stützen, dass die grosse Rita durch ihren Gedächtnisverlust auch geographisch gesehen auf die Ebene reduziert wird. Sie wohnt nicht mehr (wie Camilla im zeiten Teil) in einer Residenz auf einem Hügel am Mullholland Drive, sondern im selben Haus wie Betty. Und dadurch, dass sie nicht mehr weiss wer sie ist hat sie die Macht, die sie über Betty hatte, verloren, die nun noch einmal träumt wie es hätte seien können, bis auch der Traum in der schrecklichen Realität mündet, so wie wir jeden Morgen aufwachen und wissen in einer anderen Welt gewesen zu sein (allerdings nicht immer in einer Wunschwelt)
3) Nicht vergessen werden darf: Dieser Film ist quasi nebenbei noch ein köstlicher Abgesang auf Hollywoods Filmbranche. Betty wird bitter enttäuscht, der Regisseur Adam bekommt vorgeschrieben wen er auszuwählen hat - und zwar von lächerlich eitlen Produzenten. Das Vamp-Gehabe Camilla`s triumphiert über das naive Talent Diane`s und die lächerlichste
Szene ist die, als Betty mit dem alternden Playboy-Schauspieler eine Liebesszene wieder und wieder spielen muss. Leicht geht das unter, da der Film es versteht eine düstere Atmosphäre zu schaffen und einen durch psychologischen Grusel in seinen Bann zu ziehen. Dass auch der Auftragskiller sich dermaßen lächerlich anstellt bei einem seiner gefilmten Versuche seinem Job
nachzugehen, ist auch noch zu erwähnen. Sowie überhaupt alle Nebenfiguren überzeichnet, grotesk oder lächerlich wirken - ohne dass man sich vor Lachen auf die Schenkel schlägt.
4) Zur blauen Box und zum Penner hinter dem Imbiss fällt mir nicht viel ein, da ist die Erinnerung schon zu weit verblichen. Zu Letzterem kann ich noch weit herholen, dass er vielleicht ebenfalls den Wahn Diane`s symbolisiert. Immerhin lauert er zunächst hinter einer gefährlichen Ecke (allerdings nicht auf sie, was meine Behauptung abschwächt - er muss also eine allgemeinere Funktion haben) und lässt zum Schluss die kleinen Leute aus der Tüte, damit sie unter der Tür durchkriechen.
5) Interessant ist auch, dass Bettys Traum ihren eigenen Tod vorwegnimmt, indem sie sich ja tot im Bett einer billigen Absteige liegen sieht. Ferner führt der Weg von Rita und Betty somit zur toten Betty. Des Rätsels Lösung, wer denn Rita ist, ist die tote Betty. Dies ist ein starkes Sinnbild ("über Leichen gehen" - diese drei Wörter drängen sich da gleich auf)
Rita empfindet hier Trauer, sieht die tote Freundin und schreit in die Kamera. Auch dies ist eine von Betty erhoffte Wunschreaktion, die so niemals stattfinden wird. Rita wird an Betty`s Tod ihren Anteil haben (ihn aber nicht bedauern) und durch Betty Auftrag selbst sterben - aber das weiß der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Es gäbe noch vieles zu interpretieren, wie das Kabinett oder die Rolle und zeitliche Abfolge der Telefonanrufe, aber da bin ich jetzt wie gesagt nicht mehr so ganz drin. Dieser Film verliert jedenfalls seine Anziehungskraft auch beim zweiten Sehen nicht, aber der Grusel lässt gewaltig nach. Gerade bei dem, was ich psychologischen Grusel nennen würde, also bei Gesichtsverrenkungen (die beiden alten Leute am Anfang im Wagen: herrlich teuflisch!) oder bei immer wieder auftauchenden Mustern, wo mal ein Monster hinter der Ecke auftaucht und mal gar nichts passiert, lässt die Wirkung beim zweten Mal nach. Aber als ich das zweite Mal im Kino saß, habe ich, wie ich mich noch genau erinnere, die Leute neben mir beobachtet und daraus meinen Grusel bezogen. Die Angst, wenn die blaue Box geöffnet wird oder sich die Gesichter des alten Paares zu Fratzen verzerrten, war den Menschen ins Gesicht geschrieben - eine wirklich furchtsame Erfahrung.
Insgesamt ein phantastischer Film, an dem ich keine Schwächen gesehen habe. Diskutieren wir doch noch ein bisschen, dan erinnere ich mich vielleicht auch noch an Weiteres.
Würde mich drauf freuen.
MFG,
Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)