Wisst Ihr, was eine wirkliche Zumutung ist? Dass es Situationen gibt, in denen man Filme mit nur 55.000 Euro machen muss. Das darf doch nicht sein. Die Welt ist ungerecht. Nein, ganz ehrlich – wer will noch in einer Welt leben, in der Kinder Hungers sterben, Kriege toben und Filme mit nur 55.000 Euro gemacht werden müssen? Wie kann Gott das zulassen? Kann es überhaupt einen Gott geben? Es ist so SCHLIMM. Schluchz.
Und ganz gemein ist, wenn dann noch jemand daher kommt, und mit nur 19.000 Euro einen besseren Film macht.
Was lernen wir? AUF DIE GESCHICHTE KOMMT ES AN!
Nicht auf die Frage, ob man sich Luftaufnahmen dänischer Inseln leisten kann, oder nicht.
Wovon rede ich? Natürlich, in diesem Thread, vom Fantasy Film Fest. Und von den Filmen, die ich jedes Jahr mit der größten Spannung, der größten Freude und der größten Sorge erwarte: den Filmen aus Deutschland. Zwei sind es in diesem Jahr, und da sie beide kurz sind (63 und 45 Minuten) wurden sie als Doppelprogramm gezeigt. Beide Filme – Nimmermeer und Kaltmiete – sind Studentenfilme, der eine (Nimmermeer) von der Filmakademie Baden Würtemberg, der andere (Kaltmiete) von der Kunsthochschule für Medien in Köln.
Es ist schöne Tradition beim FFF, dass, wenn möglich, bei Studentenfilmen die Verantwortlichen vorher ein paar Worte sagen und sich nachher den Fragen des Publikums stellen. Für „Nimmermeer“ trat Produzent Manuel Bickenbach an, für „Kaltmiete“ stellten sich Drehbuchautor und Regisseur Gregor Buchkremer und – etwas widerwillig – Produktionsleiter Tobias Knubel. Aber zunächst zu den Filmen:
NimmermeerDeutschland/Dänemark 2006
Drehbuch: Toke Constantin Hebbeln, Nina Vucovic
Regie: Toke Constantin Hebbeln
Nimmermeer (nein, das ist kein Schreibfehler, sondern vermutlich tiefsinnig), das sollte ich gleich vorweg schicken, ist ein Märchen. Einem Märchen verzeihe ich einiges, da erwarte ich sogar einiges, was ich sonst weniger mag – stilisierte Figuren, zum Beispiel und eine platte Moral. Andererseits – alles hat seine Grenzen. Aber erstmal zur Geschichte:
Irgendwo in Friesland (bzw. einer märchenhaften Version davon), irgendwann in einer irrealen Zeit, die vielleicht gegen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts liegt, lebt der kleine Jonas mit seinem Vater Helge in einer Hütte am Strand. Fischer Helge fährt jeden Tag aufs Meer und kommt jeden Abend ohne Fische wieder zurück, was den etwas verstockten Helge aber nicht daran hindert, jeden Tag wieder rauszufahren. Außerdem ist die Dorfgemeinschaft fies zu dem beiden Habenichtsen, die Kinde sind noch fieser und der Pastor streng und fies. Märchen eben, einfache Charaktere, gut. Allerdings hat Märchenvater Helge ein recht robustes, frühneuzeitliches Standesbewusstsein, denn er hat weniger Probleme damit, seinem angeblich so geliebten Sohn jeden Tag wenig bis gar kein Essen vorzusetzen, als mal über seinen Schatten zu springen, und beim Kaufmann zu arbeiten. Nee, bevor Helge höflich zu Kunden ist, soll lieber sein lieber kleiner Jonas verhungern. Sagt er nicht. Nimmt er aber in Kauf.
So weit kommt es aber nicht, denn bevor Jonas nichts zu schlucken hat, schlucken die Wellen Helge. Und die ach so gemeinen Dorfbewohner lassen das verwaiste Kind nicht etwa am Strand verrecken, nein, sie nehmen es mit, vorneweg der fiese Pastor, der den Kleinen in seinen Haushalt aufnimmt.
Soweit die eeeeeeeeeeewig lange Exposition, in der wir lernen:
Arm sein ist Scheiße.
Arm und Waise sein ist richtig Scheiße.
Natürlich hat es Jonas beim Pastor schlecht, denn diese vormodern gezeichnete Figur hält sich verdammenswerter Weise nicht einen Moment lang an moderne pädagogische Grundsätze. Nein, Jonas muss hart arbeiten und wird geschlagen. Die perfide Doppelmoral, mit der der Pastor Jonas in einer Schlüsselszene zwingt, sich seine Strafe quasi selbst zu verhängen, damit der Gottesmann sich seine reine Weste bewahrt, ist dabei sehr gut und treffend gesetzt. Oder sie wäre es – wenn Vucovic und Hebbeln hier nicht eine Figur denunzieren würden, die sich – insbesondere für ein Setting in dieser Zeit und dieser Umgebung – bis dahin ausgesprochen mitmenschlich gegen den verwaisten Jonas verhalten hat. Das ist auch eines der Hauptprobleme dieser Geschichte – die Figuren. Gut gezeichnet sind dabei eigentlich nur Jonas und Knut, alle anderen gehen daneben. So soll Helge wohl als liebvoller, naiv versponnener Vater erscheinen. Was ich sehe ist ein verbohrter Trottel, dem sein eigener Stolz über das Wohl seines Kindes geht. Der Pastor hingegen, so scheint es, soll heuchlerisch und hartherzig erscheinen. Hartherzig ist er aber gar nicht, im Gegenteil – er nimmt Jonas sofort in seinem Haus auf, ebenso, wie er es vor Jahren mit dem von seiner Mutter verstoßenen, etwas zurückgebliebenen Knut getan hat. Gut – er ist ausgesprochen selbstgerecht, erzieht die Kinder streng und arbeiten müssen sie auch. Aber so war das eben früher, auf dem Land. Der Pastor ist zwar reichlich unsympathisch – aber ein Bösewicht ist er nicht. Und Helge ist zwar irgendwie doof-niedlich – aber nicht gerade eine positive Figur, wenn man mehr als eine halbe Sekunde über ihn nachdenkt. Ich muss aber wieder einschränken – Märchen sind manchmal so. Ich fand auch immer, dass der Vater von Hänsel und Gretel ein verdammtes Arschloch ist, wenn er seine Kinder für irgendeine Schlampe im Wald aussetzt. Aber nachher leben die Kinder doch glücklich und zufrieden mit ihm… was soll’s.
Wo war ich? Ach ja – beim Pastor ist es gar schröcklich. Deswegen haut Jonas irgendwann mit den Gauklern ab, nachdem der Obergaukler ihm klar gemacht hat, dass alles besser ist, wenn man eine positive Grundeinstellung hat, und dass Jonas ja außerdem Helge immer in seinem Herzen besuchen kann. Das war’s. Ätsch, Pastor!
Klingt nach einer lahmen, vorhersehbaren Geschichte mit einer platten Moral? Genau!
Wobei – dieser Film ist nicht wirklich schlecht. Er kann nicht gut sein, da die Geschichte nicht gut ist. Er kann aber auch nicht schlecht sein, denn alles andere stimmt. Die Bilder sind berauschend, das Setting liebevoll und sorgfältig ausgesucht – alles gut. Und die Schauspieler spielen großartig. Sie holen aus ihren flachen, oft misslungenen Figuren heraus, was nur eben geht. Ganz vorneweg sei Leonard Proxauf genannt, der den Jonas spielt. Wow! Eine herausregende Leistung, gerade für ein Kind. Ich weiß nicht, ob ich schon einmal einen Film gesehen habe, der einem Kinderdarsteller dermaßen viele Großaufnahmen zumutet. Und Proxauf meistert sie alle. Der Knabe ist krachend talentiert. Auf ähnlichem Niveau – aber gegen einen so jungen Könner als Hauptfigur natürlich abfallend – agieren alle anderen Darsteller, vielleicht mit Ausnahme des Meistergauklers. Der lispelt und nuschelt zuweilen so unverständlich, dass ich dankbar für die englischen Untertitel war.
Wenn man nun in Betracht zieht, dass Toke Constantin Hebbeln ein Anfänger ist, ein Filmstudent, dann ist von ihm als Regisseur noch Großes zu erwarten. Wer es zu diesem Zeitpunkt schon hinbekommt, solche Bilder zu erschaffen und solche Leistungen aus seinen Schauspielern herauszukitzeln, der macht Hoffnungen auf kommende Filme. Ich würde mich freuen zu sehen, was dieser Mann mit einer besseren Geschichte anfängt.
Nach dem Film kam dann Produzent Manuel Bickenbach, um Fragen zu beantworten. Das tat er lang und breit und bejammerte dabei, wie gesagt, ein ums andere Mal, wie wenig Geld man doch gehabt habe. Heul und Klage. Und die Lebensgeschichte des ein oder anderen Drehbeteiligten wurde uns auch ungefragt erzählt. Und bei dem Versuch, Luftaufnahmen zu machen, hat der Kameramann gekotzt. Und warum? Weil kein vernünftiger Pilot zu haben war. Und warum das? Na? Genau! Es waren ja nur 55.000… das Leben kann so gemein sein.
Danach folgte:
KaltmieteDeutschland 2006
Drehbuch und Regie: Gregor Buchkremer
Ja, da stehe ich jetzt. Ein ums andere Mal habe ich hier gepredigt, dass es von Übel ist, wenn Regisseure Drehbücher schreiben. Das erfordert, so habe ich immer gesagt (und so denke ich auch noch immer) unterschiedliche Talente, weshalb so viele Autorenfilme so langweilig sind. Eine Geschichte visuell darzustellen und eine Geschichte zu erfinden sind zwei Paar Schuhe. Schuster, bleib bei Deinem… und dann sowas.
Was soll’s, es gibt halt Multitalente. Wie Gregor Buchkremer.
Die Idee ist sehr einfach: In einer WG aus zwei Frauen und zwei Männern, hat einer der Männer sich offenbar entschlossen, am Gemeinschaftsleben nicht mehr Teil zu nehmen. Er schließt sich in seinem Zimmer ein, spricht nicht mehr, nervt die Mitbewohner mit lauter Musik und räumt nächtens heimlich den Kühlschrank leer. Diese monolithische Verweigerung treibt die anderen Drei zu immer verzweifelteren, immer radikaleren Maßnahmen, die schließlich in einer regelrechten Belagerung münden. Während der Stein des Anstoßes unverändert bleibt, verlieren seine Mitbewohner Zug um Zug die Beherrschung – bis zur Eskalation.
Eine sehr einfache, klare und gut erzählte Geschichte. Über 90 Minuten hätte sie nicht tragen können – das wäre langweilig geworden – aber für 45 Minuten genau richtig. Das ist kein kastrierter Langfilm, das ist ein echter Kurzfilm. Schon dafür gebührt Buchkremer großes Lob. Und für die klare, schnörkellose Umsetzung der guten Idee noch mal. Bravo!
Interessanterweise ist es mir nicht gelungen, herauszufinden, wer die Hauptfigur ist. Nach klassischer Drehbuchlehre wäre es eine der beiden Frauen, Tessa nämlich. Sie ist diejenige, die die Handlung am ehesten vorantreibt und sie macht die stärkste Entwicklung durch. Auch eine andere Hauptfigur wäre denkbar – nach denselben Kriterien – aber wenn ich dazu mehr sagen würde, würde ich spoilern. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin immer noch nicht sicher. Ich glaube, die Hauptfigur sind eigentlich alle drei Mitbewohner. Sie stellen jeder einen ganz bestimmten Typ dar – sind also in mancher Hinsicht etwas eindimensional – funktionieren aber als Gemeinschaft im Grunde ein Protagonist.
Wenn man die beiden Aufgaben vergleicht, die Gregor Buchkremer übernommen hat, so sticht zunächst seine Qualität als Drehbuchautor ins Auge. Die Geschichte ist einfach gut erzählt. Punkt. Das Einzige, was ich da vielleicht auszusetzen hätte, sind zuweilen etwas gestelzte Dialogzeilen. Die betreffen interessanterweise nur eine Figur, Tessa nämlich. Das spricht weniger für eine generelle Schwäche, als für irgendein Problem mit dieser speziellen Figur, und wenn das alles ist, was man an einem Akademiedrehbuch auszusetzen hat – wunderbar.
Als Regisseur schafft Buchkremer es, eine sehr dichte Atmosphäre aufzubauen. Das ist für ein Kammerspiel zwar notwendig, aber weiß Gott nicht selbstverständlich. Er kann das, mit der einzigen Einschränkung, dass Zwielichtszenen hier fast immer zu duster sind. Ein wenig möchte ich als Zuschauer schon erkennen. Das Budget war, wie wir noch erfahren werden, sehr gering. Weit geringer als die 55.000 Euro, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon als unzumutbar für das Seelenleben von Filmschaffenden bezeichnet. Vielleicht musste also an der Beleuchtung gespart werden. An der Requisite wurde jedenfalls gespart – die WG möchte ich mal erleben, die heute noch so haust. Aber das Schöne ist: Buchkremer setzt uns das nicht einfach so vor, nein, er liefert im Film noch eine Erklärung, die ganz einfach, logisch und einleuchtend ist. Soviel Fürsorge freut
.
Außerdem gelingt es dem Regisseur, die eigentliche Geschichte tatsächlich vor allem im Kopf des Zuschauers geschehen zu lassen – sowohl insgesamt als auch zwischen den Szenen. Wiederum – eine gewisse Notwendigkeit für einen Kurzfilm, aber das muss man erstmal können. Buchkremer kann.
Und dann gibt es da noch einen Punkt – das Ende. Die Geschichte endet mit einer (sehr drastischen) Auflösung. Die Frage, was da eigentlich los war, wird beantwortet. Diese Antwort ist ein Fremdkörper im Film, ganz wörtlich. Die Beleuchtung ist anders, das Tempo ist anders, selbst die Figuren sind nicht mehr die drei Protagonisten aus der WG. Ich gehe mal davon aus, dass das so gewollt ist – Gregor Buchkremer hat mich von seinem Können zu sehr überzeugt, als dass ich das für einen Zufall halten würde.
Denn die Frage ist: Sollte es dieses Ende, diese Erklärung überhaupt geben? Mir hätte der Film besser ohne gefallen. Ich hätte mir lieber meine eigenen Gedanken gemacht. Die meisten Zuschauer schienen der selben Ansicht zu sein, und Buchkremer wurde nach dem Film auch danach gefragt – und seine Antwort war entwaffnend sympathisch: Seine Professoren hätten ihn das selbe gefragt, er habe aber dieses Ende gewollt. Denn er als Zuschauer möchte in solchen Filmen eine Auflösung haben, sonst fühle er sich zu wenig unterhalten.
Dass es das noch gibt. Ein Regisseur und Autor, der sein Publikum unterhalten möchte. Der nicht mit Kunst, Relevanz oder Botschaft argumentiert, sondern mit Unterhaltung. Dass ich das etwas anders sehe, und mich von einem offenen Schluß besser unterhalten fühlen würde, geschenkt. Ich bin nur irgendein Typ im Kino, Geschmäcker sind verschieden. Aber der Anspruch, sein Publikum unterhalten zu wollen – wie schön. Danke
Die Diskussion nach dem Film war kurz, die vorherige Klage über Budgetprobleme (nur 55.000 man stelle es sich vor… 8-o ) hatte viel Zeit gekostet. Der Schluss war ein wichtiges Thema, Buchkremer und Knubel brachten aber noch die Information unter, dass sie mit einem Budget von 19.000 Euro gedreht hatten. Tja…
Nun kostet so ein Kammerspiel selbstverständlich weniger als ein Film, der mit vielen Settings und Außenaufnahmen arbeitet. Dennoch – Kaltmiete war der bessere Film.
Als Fazit bleibt eigentlich nur Positives. Vor allem weiß ich jetzt, dass es da draußen jemand gibt, der Regie UND Drehbuch kann und dazu noch in diesem Genre arbeitet und unterhalten will. Toll. Dazu kommt ein Regisseur, der es schafft, aus einer faden Story und einem gefühlten Nullbudget doch noch einen zumindest sehenswerten Film zu machen. Ein sehr gelungener Abend!
P.S.: Und wer immer für Kaltmiete gecastet hat: DANKE für Henny Reents, die Darstellerin der Kati. Ich… ähm… bin ein Mann. Und Henny Reents ist eine gute Schauspielerin, gewiss auch intelligent und vermutlich voller menschlicher Stärken. Daneben sieht sie aber auch umwerfend in Unterwäsche aus. Noch mal: Danke