Guten Abend die Herren!
Ich versuche in diesem fortgeschrittenen Stadium eurer Diskussion mal zu Euch zu stoßen, was mir nicht leicht fällt, da schon eine ganze Menge Argumente und Definitionen vorgebracht wurden. Die Ausgangsfrage war:
Wozu? Wozu eine Gegenwelt aufbauen in der das Übernatürliche zumindest vorkommt?
Wie es jetzt den Anschein hat, kristallisiert sich jetzt vor allem ein Zweck heraus: die nackte Unterhaltung.
Sick Steve
Mit dem gleichen Recht kann man Fragen, warum Kriminalliteratur, Beziehungsromane oder Abenteuerromane oder sonst eine Art von Belletristik geschrieben werden. Klar: Um zu unterhalten. Sonst nichts.
Razorback
Er will seine Leser unterhalten mit einem Thema, mit dem er sich selbst gerne beschäftigt. Wenn der Leser dabei etwas lernt - umso besser. Aber das kann nicht der Hauptzweck der Geschichte sein. Ich jedenfalls pflege Belletristik, bei der ich merke, dass der Autor in erster Linie etwas anderes wollte als mich zu unterhalten, beleidigt aus der Hand zu legen.
Sonst nichts. Wirklich? Also diese Essenz eurer Diskussion enttäuscht mich dann doch ein bisschen. Kann Literatur nicht mehr? Sollte sie nicht mehr können? Ich meine, nichts gegen Unterhaltung, gegen spannende Literatur, gegen den Zeitvertreib durch Belletristik. Aber was bleibt dann nach dem Lesen? Ein Gruseln, das ein paar Tage andauert? Ein wohliger Schauer oder eine Freudenträne bei einem Happy-End? Ich weiß nicht, aber nur um mich unterhalten zu lassen, lese ich selten. Was nicht heißen soll, das ich von Literatur vor allem erwarte, gelangweilt zu werden. Im Gegenteil.
In erster Linie aber möchte ich von Belletristik einfach und banal unterhalten werden. Dazu aber muss eine Geschichte vor allem spannend aufgebaut , mit glaubwürdigen Charakteren versehen und unvorhersehbar sein.
Sagen wir anstatt Geschichte: Handlung. Das erwarte ich nicht nur von Belletristik, sondern von allen fiktionalen literarischen Gattungen, gleich ob Prosa, ob Lyrik, ob Schauspiel. Insofern ist die Forderung "Ich möchte unterhalten werden" eigentlich ziemlich banal und auch nicht unbedingt typisch für irgendein Genre, mag es nun Fantasy, Horror, Abenteuergeschichte, Märchen, Historie, Krimi, Arztroman oder wie auch immer heißen. Insofern möchte ich mich Hamburger anschließen: allein die Unterhaltungs-Forderung erklärt noch nicht das Warum. Denn darauf bezogen ist das Genre doch beliebig. Eigentlich hat er euch, wenn ich ihn richtig verstanden habe, nach der
besonderen Notwendigkeit der Gattung "Fantasy" gefragt, und eure Antwort lautet jetzt: es gibt nichts besonderes, es ist Unterhaltung, basta!?
Ich will mal versuchen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen scheint Hamburger zu denken: Phantastische Literatur und Anspruch schließen sich aus. Oder anders ausgedrückt: Fantasy ist immer Trivialliteratur. Irgendwie schwebt dann auch die Frage mit: was hat das mit meinem Leben zu tun? In seiner Erwartungshaltung muss eben die Fiktion eine Bedeutung haben, die für sein Leben relevant ist, und nicht nur den Sinn, ihn zu unterhalten, zu ängstigen usw. Zum anderen hat die Phantastische Literatur, wie ich meine, durchaus mehr Potential als nur der Unterhaltung zu dienen. Dazu will ich mal einige mehr oder weniger naheliegende Beispiele bringen:
Franz Kafka: Die Verwandlung.Die PL kann ihre Figuren in Extremsituationen versetzen wie keine andere Literaturform. Sie kann die Welt entleeren oder verändern, Monstren schaffen, Naturgesetze ändern - und ihre Helden damit konfrontieren. Das ist die Ausgangssituation von 90 Prozent aller Horrorfilme ...
Ein Mensch wacht eine morgens auf und ist ein Ungeziefer. Also wenn das kein Fantasy ist! Und wo sonst sind sich der "italienische Sozialarbeiter" und das Phantastische näher, als in dieser Geschichte? Hier wird und muss auch Hamburger einsehen, dass Fantasy keineswegs trivial und kitschig sein muss. Die Verwandlung des Protagonisten ist aber auch die einzige Abweichung von der Wirklichkeit, Kafka kontrastiert sie wiederum mit einem beklemmendem Realismus und gerade das verleiht der Geschichte ihre Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit. Abweichungen von unserer Welt spielen bei Kafka immer eine gewisse Rolle, oft sind sie aber nicht physisch, sondern eher normativ: die Menschen verhalten sich anders, als
wir es von ihnen erwarten. Hier spielt Kafka mit unseren inneren Erwartungshaltungen, mit unseren kulturellen Normen, Werten und Weltbildern. Es ist erstaunlich, wie viel Wirkung er mit sehr geringfügigen Abänderungen erreicht. Das phantastische Element in der "Verwandlung" ist insofern sehr interessant, weil es ein Gleichnis darstellt; es sollte also nicht wörtlich verstanden werden. Damit haben wir eine Funktion gefunden, die noch nicht genannt wurde: phantastische Ereignisse können Ereignisse in der Realität symbolisieren, veranschaulichen und reflektieren.
Jonathan Swift: Gullivers Reisen.Zwerge, Riesen, fliegende Inseln und sprechende Pferde. In seinem zu unrecht als Kinderbuch degradierten Roman karrikiert Swift Persönlichkeiten und Zustände seiner Zeit. Die phantastischen Elemente dienen zum einen der Verschlüsselung, zum anderen der pointierten Persiflage. Phantastische Literatur als Satire und tagesaktuelle Gesellschaftskritik? Voilá!
George Orwell: 1984. und
Aldous Huxley: Schöne neue Welt.Sozialkritik findet man am häufigsten, wie gesagt, in der SciFi. Häufig werden Tendenzen der heutigen Gesellschaft konsequent weiter oder zu Ende gedacht, um ihre Gefährlichkeit oder ihren Segen bewusst zu machen (Dystopien / Utopien).
Ich glaube, gerade aus ihrer Möglichkeit, ziehen diese Bücher ihre Wirkung. Was ist spannender und bedrohlicher als eine Fiktion, eine Antiutopie, die droht, Wirklichkeit zu werden? Ich denke auch ein Buch wie
Mary Shelleys "Frankenstein" muss hier genannt werden, dass wohl gerade im Zeitalter der Präimplantationsdiagnostik, der genetischen Manipulation von Sojabohnen, dem Experimentieren mit embryonalen Stammzellen usw. aktuell ist wie nie zuvor. Aber noch einen anderen Namen sollte man keinesfalls vergessen:
Jules Verne, den ich mit zehn/elf Jahren sehr gerne gelesen habe. Er hat wie kein anderer nach ihm Chancen und Gefahren neuer Technologien ausgelotet und das ganze immer absolut unterhaltsam.
Hermann Hesse: Der SteppenwolfIch glaube aber nicht, dass es zum Vorführen menschlicher Abgründe so bombastischer Mittel bedarf, wie die PL sie anwendet. Vor allem glaube ich nicht, dass PL menschliche Abgründe so gut vorführt wie keine andere Literaturform.
Ich glaube, der Steppenwolf und das "Magische Theater – Eintritt nicht für jedermann" sind ein gutes Gegenbeispiel. Vor allem das Ende des Buches ist vor allem eines: phantastisch. Dort trifft der Protagonist schließlich sogar mit Mozart zusammen. Es ist eingebettet in einen Rausch oder Traum, und schon der fiktive Herausgeber bezweifelt in seinem Vorwort, dass die Aufzeichnungen des Harry Haller real seien. Und worum geht es? Um nichts als menschliche Abgründe!
Homer: Die OdysseeIch habe mich im Forum "Rezensionen" bereits etwas ausführlich dem Thema der griechischen Mythologie gewidmet.
http://www.literaturforum.net/viewtopic.php?t=Das alles ist Fantasy pur, aber der Begriff "Unterhaltung" und alles, was ich als Laie dazu sagen könnte, greifen zu kurz, um die Bedeutung und Funktion dieser Geschichten zu ermessen. Generationen von abendländischen Dichtern (und Wissenschaftlern) haben sich von diesen Sagen und Legenden der Antike inspirieren lassen. Nicht die griechischen Philosophen haben den Grundstein unserer Kultur gelegt, sondern Dichter wie Homer und die mündliche Überlieferung, die ihnen vorausgegangen ist. Der Mythos hat erst die Worte, Begriffe, Ideen und Kategorien geschaffen, den Grundstein der Sprache, auf den die Philosophen später ihre systematischeren Gedankengebäude errichten konnten. Hinter diesem phantastischen Stoff stand aber nicht der Versuch die Realität zu verschleiern, zu verfälschen oder abzuändern, sondern der Versuch die Natur, die Realität zu deuten und für das menschliche Begriffsvermögen zu erschließen.
Tolkien war ja ein prominenter Sprachwissenschaftler und als junger Mann frönte er dem (damals wohl weit verbreiteten) Hobby, eigene Sprachen zu erfinden. Die Keimzelle des Silmarillion, des HDR und aller damit verbundenen Geschichten ist seine Elbensprache. Alles andere ist im Grunde die Welt für diese Sprache. Dementsprechend ist Sprache und Sprachentwicklung in allen Büchern Tolkiens ungeheuer wichtig.
Hier gibt es also Berührungspunkte zwischen dem HDR und der Odyssee. Aber ich sehe das etwas kritischer: es ist bekannt, das Tolkien nicht einfach eine neue Sprache erfunden hat, sondern sich sehr frei bei den griechischen Mythen, dem Alten Testament und aus der Edda, dem Beowulf, dem Nibelungenlied und anderen europäischen Sagen bedient hat. Er war ja Philologe. Was dabei herausgekommen ist, ist sehr komplex - zugegeben, aber vom Charakter wohl mehr Märchen als Mythos. Vor allem die scharfe Einteilung in Gut und Böse der handelnden Personen zeugt davon. Für einen erwachsenen Menschen geht aber leider viel von der Spannung, Unterhaltung und Glaubwürdigkeit der Geschichte verloren, wenn er weiß, dass die Helden der Geschichte nicht sterben werden oder dass jede gefährliche Situation letztlich in einem Happy-End mündet, so sehr sich das fratzenhafte Böse auch noch bemüht. Auf der einen Ebene mag HDR ja sehr komplex sein, auf der anderen ist er trivial, durchschaubar und vorhersehbar.
Die Komplexität dieses Werkes übersteigt um ein vielfaches die manch anderer, als "ernste Literatur" klassifizierter Werke.
Dazu habe ich auch noch eine Frage: Ist der Herr der Ringe nicht gerade deswegen schon mehrfach kritisiert worden? Und widerspricht nicht diese Komplexität in gewisser Weise der Unterhaltungsfunktion? Die genannten Anforderungen an gute Unterhaltung ...
Dazu aber muss eine Geschichte vor allem spannend aufgebaut, mit glaubwürdigen Charakteren versehen und unvorhersehbar sein.
... scheint mir der HDR jedenfalls nicht alle zu erfüllen. Glaubwürdige Charaktere? Unvorhersehbar? Hmm. Vielleicht in den Augen eines 12Jährigen. Also diese Art der "Spannung" würde ich dann doch lieber gegen die alkoholisierte Unberechenbarkeit eines italienischen Sozialarbeiters eintauschen.
Wir müssen uns dabei auch noch etwas fragen: In was für einer Gesellschaft leben wir? Wer sind wir? - Welche Funktion hat die phantastische Literatur?
Wozu dient sie? Ist sie Unterhaltung, um von gesellschaftlichen Problemen abzulenken? Um den menschlichen Verstand zu betäuben, dass er seine Konflikte nicht mehr so stark spürt? Ist sie eine Flucht vor der Realität? Eine Art Rausch? Oder kann sie mehr sein als das: kann sie auch eine Auseinandersetzung, eine Deutung, eine Reflektion der Wirklichkeit sein? Anders ausgedrückt: Wieviel Unterhaltung brauchen wir noch? Haben wir davon nicht schon genug? Sollten wir nicht besser aufpassen, dass uns vor lauter Fantasy, Unterhaltung, cineastischen Hochglanzträumen, Comedyshows und immer neuen Musiktrends die Realität nicht aus den Augen gerät?

gelbe grüsse

"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)